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Veranstaltung zu der Zoologin Erna Mohr
Am 21. 8. 2009 im Zirkus Zaretti
Dr. Rita Bake
Unsere Veranstaltung im Circus Zaretti ist der international bedeutenden Zoologin Dr. h.c Erna Mohr gewidmet, geboren am 11. Juli 1894 in Hamburg und dort am 10. September 1968 gestorben. Ihr Grabstein steht im Garten der Frauen. Daneben ließen wir eine aus Sandstein geschaffene Baumratte setzen - aber zu den Baumratten später.
Wir präsentieren Ihnen eine bebilderte, mit Kunststücken von Tieren garnierte Lesung über das Leben und Wirken Erna Mohrs. Auf der Leinwand erscheinen Bilder aus dem privaten Photoalbum Erna Mohrs. Dazwischen werden Sie auch Zeichnungen von Erna Mohr sehen. Unser Vereinsmitglied Birgit Kiupel wird aus Erna Mohrs unveröffentlichten Erinnerungen vorlesen. Und Ponys und Ziegen des Circus Zaretti werden einige Kunststücke vorführen. Die Hundenummer wird präsentiert von Susanne Pohl, die seit ihrer Kindheit Tiere hat und Hundebetreuerin ist. Die Musikstücke zu Beginn, zur Pause und zum Ende sind für einen Circus zwar ungewöhnlich, haben aber das "Tier" zum Thema. Ausgesucht wurden sie von unserem Mitglied Gudrun Schäfer. Beginnen wir mit Erna Mohrs Kleinkinderzeit.
Erna Mohr lebte mit ihren zwei Geschwistern und den Eltern - ihr Vater war Lehrer gewesen - bis zu ihrer Einschulung in einer Etagenwohnung in der Hamburger Conventstraße. Seit frühester Kindheit galt Erna Mohrs Liebe der Natur und den Tieren. Im Hof des Hauses Conventstraße hatte ein Fuhrunternehmer seine Pferdeställe
Birgit Kiupel
"Unter den Fenstern zum Schlafzimmer war die Dunggrube, die zwar zugedeckt wurde, wenn sich die Hausbewohner hin und wieder beschwerten, die sich aber auch im nicht ruchbaren Zustand durch eine ungeheuerliche Menge Fliegen empfahl.
Mich hat diese Dunggrube nie gestört; im Gegenteil, ich fand es riesig interessant, auf den schwankenden Brettern herumzusteigen und in die dunkelgelbe Sauce zu sehen. Ich hatte ja die angenehme Gewissheit, dass mir keiner zumuten würde, daraus zu lecken. Außerdem konnte sie nur da sein, weil ein Pferdestall da war, und ein Pferdestall ist schon so lange ich denken kann, mein liebster Aufenthaltsort gewesen.
Dem Wagenschauer gegenüber an der anderen Seite des Hofes stand ein hölzernes Hühnerhaus mit einem drahtumhegten Auslauf. Den gackernden Insassen brachten wir Kinder leere Eierschalen und die Rinden von Großvaters Frühstück, denn Großvaters Zähne standen mit den Brotrinden auf Kriegsfuß.
Im allgemeinen lebte ich mit dem Hühnervater glücklich und in Frieden. Aber einmal erfuhr diese Freundschaft doch eine kleine Trübung. Ich hatte nämlich vom Dressieren was gehört - und wollte jetzt versuchen, die Hühner zu dressieren. Meine Ansprüche gingen nicht weiter, als dass ich sie alle gleichzeitig in einer Richtung wollte laufen sehen. Ich lockte also zunächst die ganze Horde mit Großvaters Brotrinden hinaus. Dann hieß es: ‚Schuuuh!' und ich jagte sie hinein ins Haus. Dann bumste ich mit beiden Händen ans Hühnerhaus, und die Gesellschaft stob wieder heraus. ‚Schuuh!' Wieder rein! "Bums"! Wieder raus. Das Tempo war mir immer noch nicht recht, wenn's auch schon bedeutend besser ging als beim ersten Mal. Deshalb machten wir die Übung, wie es in der Turnstunde heißt, ‚fortgesetzt'. Ich fühlte mich so sehr berechtigt, dem Federvieh Bildung beizubringen, dass ich meine Stimme in keiner Weise mäßigte. Aber andere Leute waren anderer Ansicht.
Unser Hauswirt war nicht der umgänglichste Mitmensch. Umso mehr liebten wir Kinder seine Frau, die übrigens auch nicht allemal mit ihrem Eheliebsten einverstanden war. Frau Kohl hatte eine erwachsene Tochter Anna. Anna Kohl verlobte sich später, und ich empfand es als Demütigung, dass sie nach der Hochzeit den Namen ihres Mannes tragen sollte.
Wie uns in unsere Bücher unseren Namen geschrieben und er uns in unsere Wäsche gestickt wurde zum Zeichen unseres Eigentums, sollte nun Anne durch den Namen als das Eigentum eines fremden Mannes gestempelt werden. Da schien mir, wenn man durch solch nebensächliche Sache wie das Heiraten nicht mal dem Namen nach sein Selbst behalten könnte, sollte man's lieber ganz lassen. Und so beschloss ich denn damals, das Heiraten lieber zu lassen.
Eines schönen Sonntags holte ich mir für meinen Wochenlohn mein sechstes Pferd.
In der Zeit in der Conventstraße fällt auch noch meine erste Liebe zu den Kaninchen. Unser Vater nahm uns gelegentlich mit in die großen, baumbeschatteten Kleingärten, die damals noch in der Gegend der Papenstraßen waren. Dort hatte ein Bekannter einen Karnickelstall mit zahlreichen Kaninchen, von denen ich besonders die hasenfarbigen zum Küssen fand und dementsprechend behandelte. Auch heute noch wird es mir schwer, ein Karnickel, das in meine Reichweite kommt, unangefasst zu lassen, wenn es auch nicht nötig ist, ihm meine Zuneigung auf die frühere Weise auszudrücken.
Zu der Heuschreckenzeit hatte meine Schwester Meta noch Interesse für Tiere. Wir bauten aus einer Streichholzschachtel einen Wagen, vor den wir die unglücklichen Viehchen spannten, bauten ihnen aus Seidenpapier kleine Kleider, ließen sie über unsere Hände laufen und springen. Abend sperrten wir unsere Heuschrecken in eine leere Zigarrenkiste, aus der sie morgens lendenlahm und halb betäubt wieder zum Vorschein kamen. Aber einmal hatten sie sich nachts auf Wanderung begeben, und als die Mutter sie einzeln aus dem Zeug in der Garderobe zusammen sammeln musste, hub ein großes Morden an.
Ich habe häufig versucht, Grashüpfer zu halten, aber es gelang nicht. Mit Raupen hatte ich auch nicht viel Glück. Wen wir Froschlaich zogen, gingen die Kaulquappen ein. Es ging erst besser mit der Tierhaltung, als mir nicht so viele Leute mehr dazwischen redeten.
Ich bepflanzte Aquarien und Hafengläser sachgemäß, hielt Wasserwanzen, Käfer, Libellenlarven und anderes Ungeziefer, und alles gedieh.
Dann interessierten mich eine Zeit lang die Reptilien und neben den Aquarien standen selbstgefertigte Terrarien. In dem einen saß eine griechische Landschildkröte, in einem großen Hafenglas eine Sumpfschildkröte, die wegen ihrer Behendigkeit meine besondere Freundin war und oft frei in der Stube herum lief.
Ferner hatte ich mir am Knick bei Sievekings Park eine Waldeidechse gegriffen. Ich fing ihr Fliegen und Motten und hütete sie gut. Aber eines Nachmittags hatte Meta in meiner Abwesenheit über ihr regnen lassen; da das Vieh in einem Glashafen wohnte, konnte das übergeträufelte Wasser nicht ablaufen und der Stolz meiner Tage - die Waldeidechse galt als nicht eben häufig - ertrank. Nun hatte ich zwar beim Steg der Alsterdampfer erst kürzlich die Anweisung zur Wiederbelebung Ertrunkener studiert und versuchte mein Heil bei meinem Eidechs, aber der war tot und blieb tot trotz der künstlichen Beatmung.
Schlangen duldete meine Mutter nicht im Hause. Blindschleichen gingen unter derselben Handelsmarke. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich an die Frösche zu halten. Ich fand bald heraus, dass der Laubfrosch das einzig Wahre ist und hatte ein selbstgegriffenes Exemplar mehrere Jahre lang. In dieser Zeit der Froschkönigsherrlichkeit kriegte ich eine fabelhafte Geschicklichkeit im Fliegengreifen. Rana der Frosch hatte einen gesegneten Appetit, und ich sah mich oft genötigt, mit einer leeren Streichholzschachtel nach der Landwehr zu ziehen und mir da an den warmbestrahlten Hauswänden weitere Fliegen zu greifen. Amüsant war es, wenn ein großer Brummer nicht mit einem Happs verschluckt werden konnte, und der Frosch dann mit seinem Handrücken nachstopfte. Er schluckte dann mit zugedrückten Augen, und man konnte noch eine zeitlang sehen, wie bzw. wo der Brummer sich im Leib des Grünen bewegte. Noch toller sah es aus, wenn es ein Mehlwurm war, was sich im Leibe wand."
Rita Bake:
Seit ihrer Kinderzeit besuchte Erna Mohr gerne die Zoos, den Zirkus und das Zoologische Museum in Hamburg. Sie wollte immer etwas mit Tieren zu tun haben. Dennoch musste sie aus finanziellen Gründen Lehrerin werden. Dieser Beruf bot ihr in den Augen ihrer Eltern eine sichere Existenz. Doch auch der Besuch des Lehrerinnenseminars hinderte Erna Mohr nicht daran, sich weiterhin den Tieren zu widmen. So sammelte und konservierte sie in den in Büsum verbrachten Ferien Fische und Krabben und brachte sie dem damaligen Professor des Zoologischen Instituts mit. Als Erna Mohr dem dort tätigen Prof. Ehrenbaum ihre Sammlung zeigte,
Birgit Kiupel:
"fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, im Institut mitzuwirken. Ich wehrte entsetzt ab, ich wäre im letzten Semester, sollte Examen machen und dachte - : ‚Die bringen Dich zu Hause schön auf den trab, wenn Du so kurz vor dem Examen solche Sachen machst.' Aber Prof. Ehrenbaum meinte, das schadete ja nicht, ich brauchte ja nicht alle Tage zu kommen, und er wolle schon aufpassen, dass ich nicht doch überanstrengt würde. Ich wagte es, und kam zunächst alle Woche einige Male für einige Stunden. Nach dem Examen kam ich dann täglich.
Die in Büsum gesammelten Fische hatte ich inzwischen im Museum abgeliefert. Einige müssen im ganz leidlichen Erhaltungszustand gewesen sein, denn bei der nächsten Gelegenheit bestellte mir Herr Feser, der dort auch arbeitete, ich möchte mich mal in der Fischabteilung bei Dr. Duncker einfinden. Nach einiger Zeit tat ich das und kriegte da einen Vortrag: diese Fische seien schon ganz schön, noch schöner würden sie aber, wenn man es folgendermaßen machte: und dann ging's los.
Ich fuhr in den letzten Seminarjahren während der Zeichenstunden ins Museum und machte dort große Kohlezeichnungen wie das Elefantenskelett.
So saß ich denn auch eines Tages vor der Hirschfamilie, als der Aufseher Schultz zu mir kam. Da sagte er mit einem Blick auf den Hirschvater: ‚Ja, das können Sie ja nun. Können Sie denn auch wissenschaftlich zeichnen?' Ich wusste nicht, weshalb zeichnen und zeichnen denn zweierlei sein sollte und sagte: ‚Ja, natürlich - weshalb meinen Sie?' ‚Oben suchen sie einen, der wissenschaftlich zeichnen kann, weil ne Arbeit schnell fertig werden soll, und der Zeichner nicht alles fertig kriegt.' ‚Zu wem geht man denn da?' ‚Zu Herrn Prof. Pfeffer'. Ich ließ Spannrahmen und Staffelei stehen und stieg zu Prof. Pfeffer. Ich muss noch vorausschicken, das meine rechte Hand dich verbunden war. Mit der bewickelten Pfote zeichnete es sich nicht gut, und ich hatte bei meinen Kohlebilden die Linke genommen. Jedenfalls kam ich in diesem Aufzug bei Prof. Pfeffer an und trug ihm vor, was der Schulz mir erzählt hatte. ‚Ja,' meinte Pfeffer ‚wenn det jeht!' Dann zog er mit mir in das Zimmer von Dr. des Ats. Er hatte eine Arbeit über afrikanische Spinnen verfasst und der Museumszeichner wurde nicht zum Ablieferungstermin mit allen Zeichnungen fertig. Ich machte mit meiner lahmen Pfote eine Probezeichnung, die zur Zufriedenheit ausfiel, und dann habe ich den Rest der Zeichnungen gemacht."
Rita Bake:
Neben ihrer Ausbildung zur Lehrerin hatte Erna Mohr im Alter von 18 Jahren am 1843 gegründeten, weltberühmten Zoologischen Museum am Hamburger Steintorplatz eine Tätigkeit als Spinnenzeichnerin angenommen. Nach dem Examen hieß es aber eine Lehrerinnenstelle anzutreten
Birgit Kiupel:
"Als ich nach den Ferien zurück kam, bedrückte mich die Frage: wirst Du nun zum 1. April gleich angestellt! Ich wusste, dass meine Eltern sehr, sehr rechnen mussten und hatte auch in all den Jahren meine Ansprüche in Bezug auf Kleidung etc. auf das unumgänglich nötige Minimum beschränkt.
Es war mir zwar recht, dass ich nicht sofort nach dem Examen zur Aushilfe angestellt wurde, aber wo der 1. April in so greifbare Nähe rückte, ohne dass mich die Behörde irgendwohin geschickt hätte, beunruhigte es mich hochgradig.
Doch als ich eines Morgens an nichts Böses dachte, kam Rektor Rudolf Baum zu mir und erklärte, ich sei ihm von der Behörde zugewiesen zur Vertretung für die schwerkranke Fräulein Julius."
Rita Bake:
Erna Mohr kam an die Volksschule für Mädchen am Rhiemsweg 1 in Hamburg Horn. Dort war sie von 1914 bis 1919 tätig.
Birgit Kiupel:
"Der naturwissenschaftliche Unterricht lag mir. Für die Biologie hatten wir im Sommer die ganze Gegend mit allen Knicks, Gräben , Teichen und die Bille zur Verfügung. Wir sind fleißig in der frischen Luft gewesen; das ganze Horn war ja so ländlich. Wir fingen Käfer, Milben und Wanzen aus dem Dorfteich und bevölkerten unsere Aquarien damit."
Rita Bake:
Nach fünf Jahren Tätigkeit an dieser Schule wollte Erna Mohr dort nicht mehr arbeiten. Von 1919 bis 1930 arbeitete sie als Lehrerin in den gemischten Klassen der Hilfsschule Bramfelder Straße. Gleichzeitig war sie seit 1913 Mitarbeiterin in der Fischereibiologischen Abteilung bei Professor Ehrenbaum. Hier gelang es ihr, Altersbestimmungen bei Fischen durchzuführen - eine wissenschaftliche Pionierleistung.
Nach einiger Zeit wechselte Erna Mohr in die Abteilung für niedere Wirbeltiere, wo sie sich in die Systematik der Fische einarbeitete und auf diesem Gebiet viele wertvolle Arbeiten veröffentlichte, die ihr internationale Anerkennung einbrachten.
Birgit Kiupel:
"Ich war ursprünglich mit dem gebührenden Maß von Begeisterung für den Lehrerinnenberuf aufs Seminar gegangen. Dass meine Begeisterung für die Schulmeisterei zum guten Teil in die Brüche ging, dafür sorgten zum guten Teil der Betrieb selbst, für das Abschleifen überflüssiger Ideale. Andererseits fand ich an den Arbeiten im Fischereibiologischen Institut immer mehr Interesse, sodass mir die Schule lästig erschien, weil sie den Hauptteil meiner Zeit in Anspruch nahm. Ich war den Vormittag über in der Schule, aß zu Mittag und ging sofort von 5 bis 7 ins Institut.
Während das Schulleben immer so sachte weiter lief, wurde ich im Institut immer brauchbarer und musste mich mit der Altersbestimmung beim Specht abgeben. Ich mochte es gerne und fand soweit den Beifall von Prof. Ehrenbaum, dass er mich in den Osterferien auf Museumskosten an die Ostsee an einige Sprottenfangplätze schickte."
Rita Bake:
In Kiel kontaktierte Erna Mohr, als sie der Frage nachging: ist der Lachs ursprünglich ein Meeresfisch, der zum Laichen ins Süßwasser aufsteigt, oder ist er ein Süßwasserfisch, der zum Fressen ins Meer wandert, den Paleontologen Professor Wüst. Von ihm erhoffte sie sich eine Antwort auf ihre Frage, denn sie glaubte, die Frage müsse zu lösen sein, wenn sie fossile Funde berücksichtige und dabei erforsche, ob diese Funde aus marinen oder Süßwasser-Ablagerungen stammen.
Birgit Kiupel:
"Als ich später wieder in Hamburg war, kam mir eines Tages ein Kollege auf der Straße entgegen gegrinst und fragte: ‚Wo haben Sie nur den Prof. Wüst kennen gelernt?' ‚In Kiel Wieso?' ‚Ja, Dr. Harenberg hat einen Brief von ihm gekriegt, in dem er unter anderem schreibt, er hätte die Bekanntschaft eines Hamburger Fischweibes namens Mohr gemacht, ob und wie die am Hamburger Institut bekannt sei.' Damit hatte ich meine Handelsmarke für alle Zeiten weg.
1916 war ich inzwischen im Institut bei eigenen wissenschaftlichen Arbeiten angelangt. Ich bearbeitete die Seezunge. Da unser Institut nicht mit reichlichen Mitteln arbeitete, wurde mir zwar eine kleine Summe bewilligt, die aber nur zur Deckung gelegentlicher kleiner Unkosten dienen konnte und sollte. 20 M im Anfang war nicht überwältigend, sollte aber auch ja kein Honorar sein. Nur eine Assistentenstelle gab es bei uns, und die hatte Dr. Kurt Marcus. Da kam Prof. Thienemann als Leiter der Hydrobiologischen Anstalt nach Plön. Ich kannte den Herrn persönlich und hatte Lust, mich in Plön einstellen zu lassen, weil ich in Hamburg in absehbarer Zeit nicht ankommen konnte, und mir die Fischereibiologie so sehr am Herzen lag, dass ich von der Schule loskommen trachtete. So fragte ich bei der Rückfahrt von einer Elbfahrt, als wir mit dem Zügle durchs grüne Land Kehdingen fuhren und die Sonne vertrauensvoll und warn herein schien, den Professor Ehrenbaum, was er dazu sagen würde, wenn ich mich um einen Posten in Plön bewerben würde. Ehrenbaum schien zunächst etwas erstaunt über meine Kühnheit, und hielt mir dann einen langen Vortrag. Er könne mich nicht einstellen im Hauptamt, aber sowie eine zweite Stelle an unserem Institut geschaffen würde, oder sowie Dr. Marcus einmal abgehen würde, würde er mich in erster Linie vorschlagen, und mich zuerst fragen, ob ich kommen wollte. Er könne es mir aber nicht verdenken, wenn ich inzwischen mein Glück wo anders versuchen wollte. Die Geschichte mit Plön lief aus wie das Horneberger Schießen, denn Thienemann hatte kein Geld für einen Assistenten.
Es spann sich damals aber etwas an, was mir jahrelang viele Hoffnungen und ebenso viele Enttäuschungen gebracht hat. Prof. Holtzinger versuchte mit allen Mitteln mich zu bestimmen, dass ich ein reguläres Universitätsstudium aufnehmen sollte. Ich hatte nur Seminarbildung, und die Abschlussprüfung wurde damals dem Abitur noch nicht gleichgerechnet. Aber zu den Zeiten, als Holtzinger in Tübingen dozierte, wurde es geduldet, dass Leute, die zeigten, dass sie wissenschaftlich denken und arbeiten konnten, dort studieren und promovieren konnten. Diese Aussicht war mir eine große Freude, da die wissenschaftliche Arbeit mich noch mehr befriedigte, als die praktische Pädagogik.
Ich zog meine Erkundigungen ein, und als ich endlich die Gewissheit hatte, dass ich die nötigen Gelder vorgeschossen kriegen konnte, waren die Bestimmungen in Tübingen dahin umgeändert, dass ich dort nicht mehr immatrikuliert werden konnte."
Rita Bake:
Mit ihrem Kollegen Prof. Duncker, der ihr zum Freund geworden war, diskutierte Erna Mohr immer wieder ihre weiteren Pläne und wissenschaftliche Laufbahn.
Birgit Kiupel:
"Wir haben das Problem meines Universitätsstudiums von allen Seiten erörtert. Das einzige, was eventuell annehmbar gewesen wäre, war eine Auskunft von zur Straßen aus Frankfurt a. M. Doch das Ding hatte drei ‚Aber', die jeweils im persönlichen Belieben des Ordinarius gelegen haben würden. Dem konnte ich mich bei meiner Mittellosigkeit - ich lebte nur vom Gehalt - nicht aussetzen, dass ich erst alle Universitätsjahre auf Pump hinter mich gebracht haben und dann möglicherweise nicht zum Examen zugelassen werden würde.
Das Abitur nachzumachen, was alle Schwierigkeiten behoben haben würde, konnte ich aus mancherlei Gründen nicht. Ich hätte mich zu dem Zweck vom Schuldienst befreien lassen müssen, hätte also in der Vorbereitungszeit meinen Unterhalt nicht bestreiten können und hätte meinen Eltern auch nicht zur Last sein dürfen. Sodann hatte ich zwar ein recht annehmbares Seminarabgangsexamen gemacht, aber der Seminar-Lehrplan ist doch nicht wesentlich von dem einer Oberrealschule verschieden. Es wäre mir schwerlich möglich gewesen, das an Mathematik, Physik, Französisch und Latein in meiner arg beschränkten freien Zeit nachzuholen, was zu einem anständigen Abitur von Nöten war. So sah ich mich also mal wieder auf das alte Geleise gesetzt."
Rita Bake:
Es blieb alles beim Alten. Erna Mohr behielt ihre zwei Berufe: den der Lehrerin und den der Wissenschaftlerin am Zoologischen Museum. In ihren Schulferien bereiste sie die deutschen Zoos, um in dieser Zeit dort als Zoologin zu arbeiten.
Birgit Kiupel:
"Die wilden Tiere hatten es mir nun einmal angetan, namentlich die lebenden. Und so machte ich mich Ostern 1917 zum zweiten Mal auf eine "Affen-Garten-Reise". Zunächst schlug ich in Münster mein Standquartier auf. Der Zoo lag außerhalb des Stadtwalles. Ich ging möglichst so zeitig in den Zoo, dass mit dem Zoodirektor auf seinen ersten Inspektionsgang durch den Garten gehen konnte. Dann krochen wir in allen Ställen herum. Mir machte ein neugeborenes Dromedar viel Spaß, und da die Mutter Kamel an mir kein Ärgernis nahm, freundete ich mich mit der höckrigen Familie sehr an; es tat mir auch keiner was, wenn ich in der Box herumstieg."
Rita Bake:
Während des Ersten Weltkrieges musste Erna Mohr oft längere Zeit mit ihren Schulkindern auf dem Land verbringen, wo die Kinder auf Bauernhöfen einquartiert wurden.
Birgit Kiupel:
"Ich musste mit 15 Knaben von 12 bis 14 Jahren auf längere Zeit nach Mecklenburg. Das betreffende Gut hatte v on Anfang Juni bis Oktober Platz und Futter für 15 Jungens.
Es hatte sich bisher niemand als Begleiter der Kinder gefunden. Ich wollte nach Halle, wo ich im Provinzialmuseum im Magazin arbeiten wollte. So lief ich mir die Hacken ab, um einen Begleiter für die Gören zu finden, aber niemand wollte anbeißen. Da machte ich selbst einmal Kassensturz, und als der Gesamteindruck nicht so überaus glänzend ausfiel, vertagte ich Halle bis zum Oktober und übernahm die Sache selbst. Noch vor Beginn der Sommerferien versammelte ich eines Morgens meine Jungens um mich; jede Mutter legte mir ihren Sohn noch ganz besonders ans Herz. Jeder hatte irgend etwas, was die Mama zur richtigen Würdigung ihres Sprösslings mir privatim anvertraute. ‚Un Frollein, da is doch kein Wasser in die Nähe?' ‚O gewiss, ein riesengroßer See!' ‚O Gotte! Da gehen Sie doch nich mit die Kinners so dicht ran, nich?' ‚Ne, ran nicht, aber rin!' ‚O nö, das dürfen Sie aber nicht!' ‚Schicken Sie ihrem Jungen man heut Nachmittag noch die Badehose!' ‚O nö!' ‚Ne, dann nicht, es geht auch viel schöner ohne.'
In Dahmen kamen wir vor unserem Chateau an, dem Schneckenhaus, wie wir es in der Folge nannten. Wir hatten die Hälfte einer Tagelöhnerkate für uns. Die Jungens suchten hier gleich das verschwiegene Örtchen, aber vergeblich. Sie fragten Mutter Stoldt, die in den andern teil des Hauses wohnte: ‚Wo is hier die Toilette?' ‚War vör n Ding?' ‚Die Toilette!' ‚Wat' s ‚dat?' ‚Das Closett!' ‚Closett?' ‚Jo, Minsch, Closett, Tante Meier, Minsch, ich muss mal!' ‚Och so!' Ne, so wat hebbt wie hier nich!' ‚Wat gibt es hier denn?' ‚Wi sett uns achtern Hus, tu do du ok man!'
Ich hatte in all den Wochen kaum jemals ein Gefühl der Vereinsamung gehabt, trotzdem ich mit meinen geistigen Interesse n und Bedürfnissen gänzlich auf mich selbst angewiesen war. Ich hatte meine Seezungen-Listen mitgenommen und arbeitete am Manuskript. Was ich auf dem Herzen hatte, schrieb ich an Duncker und Wüst.
In den ersten Wochen zogen wir allesamt zu Felde. Dann wurden die Kommandos erteilt. Zwei bis drei Jungen halfen der Köchin Kartoffelschälen. Ebenso viele oder mehr mussten Schweine hüten. Das war ein unbequemes Geschäft. Schweinehüten war bei der Geistesrichtung dieser Jungs eine Plage und vier bis fünf Mann kriegten oft nicht alle 83 wieder heim.
In der Erntezeit beim Korn mussten die Jungen mit zufahren. Bei den Pferden taten sie das auch ganz gern, sogar wenn sie nicht reiten konnten oder durften. Aber mit dem gelben fränkischen Ochsen mochte keiner gern umgehen. So weit reichte die Jungensgeduld nicht. Ich ging dann von einem Gefährt zum andern und tröstete die Jungens, redete dem Schweinfurter Ochsen gut zu und klopfte die Pferde. Besonders der Rotschimmelhengst freute sich, wenn ich kam, wieherte mir entgegen und rieb seinen gewaltigen Schädel an meinem Rock.

Während die vollen Kornfuder zur Scheune fuhren, hatten wie Hinterbliebenen Zeit für uns. Dann stießen die Jungens gern die Hocken um und traten die Mäuse tot, die drunter saßen. Die Feldmäuse erwischten sie auch stets, aber die seltenere rehbraune Brandmaus, war viel zu flink. Ich wollte gern ein Tierchen in der Nähe sehen und setzte Prämien aus auf die ersten beiden Brandmäuse. Aber die verstanden es, ihr Fell rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Nur ganz selten fühlte sich ein der Kinder sich dreckig und gab ein mir soweit ungeläufiges Krankheitsbild, dass ich mit ihm zu Dr. Ehrich zog. Bei meinem ersten Besuch bei ihm war ich freudig überrascht, eine ganze Menge indischer Gehörne und Felle bei ihm zu sehen. Wir klönten etwas, und schließlich kam er mit einem Ding an, mit dem er mich festsetzen wollte. Ich riet auf Katzenmumie, es war ein ausgetrockneter Tiger-Fötus, war also verhältnismäßig wenig vorbei gehauen.
Sein Bruder Paul, Ende der Dreiziger oder Anfang der Vierziger Jahre, ohne Beruf und nicht der geistvollste Mitmensch, sogar nicht einmal in dieser gottverlassenen Gegend, ist bisher übrigens der einzige gewesen, der unbedacht genug war, mir einen Heiratsantrag zu machen. Er ist aber diesmal noch vor Schaden bewahrt geblieben."
Rita Bake:
Erna Mohr arbeitete weiterhin während der Schulferien in verschiedenen deutschen Zoos und naturkundlichen Museen. Dort übernahm sie Aufträge gegen Honorar. So magazinierte sie z. B. Säugetierreste. Und auch weiterhin fuhr sie mit Kindern in die Sommerfrische aufs Land.
Als sie mit ihren Kindern in Boltenhagen einquartiert war, musste sie wieder einmal eine große Enttäuschung erleben.
Birgit Kiupel:
"Ich war lange nicht an dem See in Boltenhagen gewesen, war nun ganz allein am weiten Strande und konnte in bester Ruhe nachdenken über eine tiefe Enttäuschung, die mir im Institut zuteil geworden war. Unser Assistent Dr. Marcus war in Rumänien gestorben, und ich merkte, dass Ehrenbaum nach einem anderen Assistenten suchte. Er hatte es schon wochenlang betrieben; aber ich war bisher der Ansicht gewesen, er wehrte nur Bewerber ab. Als mir die Sache bedrohlich schien, ging ich aber doch zu ihm und erinnerte ihn an unsere Unterredung in der Kehdinger Kreisbahn, als ich nach Plön wollte. Er hatte damals gesagt, dass er mich einsetzen wollte, wenn er eine zweite Assistenten-Stelle bekäme, oder wenn Marcus aus irgend einem Grunde abgehen würde. Aber Ehrenbaum wollte davon nichts wissen. Das hätte er nie gesagt; man könne nicht diese Stelle mit einem Nichtakademiker - noch dazu weiblichen Geschlechts - besetzen, wo nach dem Kriege die Akademiker rudelweise stellungslos herum laufen würden. Das ließ mir auch der Direktor Lohmann bestellen, der mir in der ganzen Angelegenheit ausgewichen ist und nichts persönlich gesagt hat.
Ehrenbaum war offen genug zu sagen: wenn er jetzt einen anderen Assistenten wieder kriegte, hätte er mich wieder zwei Mann da zum Arbeiten, wenn ich es würde, wäre er mich als nebenamtlichen Assistenten los. Das war von seinem Standpunkt gesehen sicher richtig, aber er konnte nicht gut verlangen, dass mir das auch gut schien. ‚Sie sind ja Lehrerin', hieß es, ‚Sie haben ja ihr Auskommen, ihre Pensionsberechtigung. Was wollen Sie also in einer nicht pensionsberechtigten Stellung?' Das ich seit fast fünf Jahren zwei Berufe nebeneinander hatte, von denen jeder an mir zehrte, wurde geflissentlich übersehen, ganz abgesehen, dass man verständnislos war oder tat der Tatsache gegenüber, dass jemand seine wirtschaftliche Stellung verschlechtern wollte, um dem leben zu können, was nun einmal die ganzen Gedanken ausfüllte.
Man hatte mich also mal wieder aufs tote Gleis geschoben, diesmal gleich gründlich und mindestens auf solange Zeit, wie die sonstigen Personalverhältnisse unseres glorreichen Museums die gleichen bleiben würden."
Rita Bake:
Noch während des Ersten Weltkriegs erhielt Erna Mohr das Angebot, für ein Jahr im niederländischen Den Helder fischereibiologisch zu arbeiten. Als der dortige Direktor Redeke ihr dies Angebot machte, antworte Erna Mohr
Birgit Kiupel:
"Ich sagte ihm, dass er bei diesem Anerbieten wahrscheinlich von falschen Voraussetzungen ausginge, denn ich hätte weder studiert noch promoviert und sei nur nebenamtlich am Museum angestellt. An Lust fehlte es mir dagegen absolut nicht. Er wurde nachdenklich, aber unsere weitere Unterhaltung musste unterbrochen werden.
Reichlich acht Tage später kam Redeke mit ins Institut, wo ich ihm mit Projektionsapparat und Mikroskop von der Richtigkeit meiner Untersuchungen überzeugte.
Er wurde mit jedem neuen Beweis immer aufgeräumter, so dass ich es wagte, ihm zu erzählen, dass ich auch als Schulmeister Urlaub kriegen könnte, wie ich inzwischen in Erfahrung gebracht hatte. Dann berichtete ich, wie man mich schmählich hatte abfahren lassen, als ich hauptamtlicher Assistent hatte werden wollen. Wir verschwatzten nach der Arbeit wieder einige Stunden und gingen als gute Freunde auseinander.
Nach einige Tagen kam ein Brief von Redeke: er hätte sich die Sache mit meiner Anstellung als tydelyken Assistent noch mal überlegt, die Einwilligung seines Kultusministers bekommen und fragte nun, ob ich zum 1. Juli zunächst auf ein Jahr hinkommen wollte. Ich sah endlich handgreiflich die Erlösung vom Schuldienst und die Möglichkeit, meinen eigentlichen Interessen leben zu können. Meine Behörde war sehr human und stellte mir in Aussicht, dass ich trotz der sonstigen Bestimmungen, die halbjährliche Kündigung zum April für Festangestellte forderten, von einem Tag auf den andern kündigen dürfte in diesem Fall. Es wurde mir aber in Aussicht gestellt, das ich hinterher wieder an gleicher Stelle eingestellt werden sollte.
Redeke schrieb mir, ich solle das große Gepäck gleich nach den Helder durchsenden und für einige Wochen nach Friesland kommen, wo das Stationsschiff und Untersuchungsfahrzeug lag. Ich sollte gleich mit beiden Beinen in die Arbeit springen.
Die Nachricht von meiner endgültigen Ernennung verzögerte sich soweit, dass ich ziemlich nervös wurde, aber meine Entlassung aus dem Schuldienst deshalb nicht erbitten konnte. Am 1. Juli sollte ich fahren; da kam am 29. Juni ein Telegram, ich solle nicht abreisen, es hätten sich Schwierigkeiten aufgetan. Der Brief, der hinterher kam, stellte fest, dass trotz der Bewilligung des Kultusministers das Außenministerium meine Einreise verboten hatte, wahrscheinlich - wir waren noch im Kriege - weil die Engländer, die die Holländer zu der Zeit etwas bedrängten, gegen einen neu in Staatsstellung einzuführenden Deutschen protestierten. Der Außenminister wechselte zwar einige Monate darauf, aber das konnte mir nicht mehr helfen. Ich war jedenfalls erstmal wieder um eine Enttäuschung reicher."
Rita Bake:
Erna Mohr arbeitete also weiter in der Schule und nach Schulschluss im Zoologischen Institut. Seit einigen Jahren wohnte sie nicht mehr bei ihren Eltern. Sie lebte zuerst bei einem Tapezierer zur Untermiete, später in Ahrensburg bei dem Sparkassenbeamten Böttger. Dort bewohnte sie zwei Zimmer.
Birgit Kiupel:
"In Ahrensburg war ich gut aufgehoben. Vom ersten Stockwerk aus ging eine Tür nach den daneben liegenden Kornspeicher. Daher bezogen wir unser Mäuse. Zunächst nachten die Tierchen mir Spaß, wenn sie abends, während ich am Schreibtisch arbeitete, auf dem Stuhl daneben saßen und mir zusahen. Aber nach einigen Wochen fingen sie an, mir die Tapeten von den Wänden zu reißen. Da stellte ich Schlagfallen, die viel Erfolg hatten. Manchmal fing ich nachts drei bis vier Stück. Die Viehchen saßen förmlich schonbereit und warteten nur darauf, bis ich das Eisen wieder gerichtet hatte und unter die Decke gekrochen war. Bei mir fing ich zur Hauptsache Hausmäuse, nur vereinzelt Feldmäuse. Hier gibt es auch gelegentlich Wanderratten und Waldmäuse. Die Waldmäuse kommen im Winter manchmal ins Haus. Da ich gern welche lebend halten wollte, ließen meine Wirtsleute ein Tierchen, dass in die Badewanne gesprungen war und nicht wieder heraus konnte, für mich darin. Aber da ich an dem Tage grade spät aus Hamburg kam, war das kleine Etwas auf dem kalten Boden so durchgekältet, dass es schon nach wenigen Stunden starb."
Rita Bake:
Und wieder eine Enttäuschung.
Birgit Kiupel:
"Im Frühjahr 1919 hatte Prof. Ehrenbaum versucht, mich für einige Zeit vom Schuldienst zu befreien. Vorher war ich zum Landesschulrat Prof. Umlauf, der sich meinen Bericht ganz freundlich anhörte und uns ermunterte, ein wohlbegründetes Gesuch einzureichen. Nach seinen Äußerungen konnte ich mit ziemlicher Sicherheit auf Befreiung rechnen, wir nahmen uns alle möglichen Arbeiten vor, die ich im Laufe des Sommers erledigen wollte. Da kam auf Ehrenbaums vierseitiges Gesuch eine zweiseitige abschlägige Antwort von Umlauf. Es ist vielleicht verzeihlich, dass mich das für die nächste Zeit etwas herunterbrachte."
Rita Bake:
In ihren Schulferien unternahm Erna Mohr auch große Wanderungen. 1920 ging es in den Schwarzwald. In Tübingen wohnte ihr Kollege Dr. Soergel. Mit ihm verband sie mehr als nur Freundschaft. Aber auch hier erfuhr sie eine herbe Enttäuschung.
Birgit Kiupel:
"Ich hatte mich zum Abendbrot in die "Forelle" gesetzt und mir gute Dinge bringen lassen. Als ich beim Weine saß, kam Dr. Soergel. Ich hatte mich auf ihn gefreut, und er war recht aufgeräumt. Wir kehrten alle alten Beziehungen hervor und wurden bald wieder warm miteinander. Wenn es gutes Wetter war, brachten nach dem abendlichen Umtrunk Soergel und ich Kesler und Frau nach Hause und schlenderten dann noch etwas auf der Chaussee im Mondschein. Dabei redeten wir uns alles vom Herzen, philosophierten über alles Mögliche und fühlten uns durchaus wohl und zufrieden miteinander. Als ich schließlich weiterwanderte, wusste ich, dass ich ihn von Herzen lieb hatte. Und dass ich ihm nicht gleichgültig war, konnte ich an tausend Kleinigkeiten merken. Ich schenkte ihm zum Abschied die ‚Kritik des Herzens' mit einer in Verse gegossenen Widmung. Er schrieb mir darüber später wenig begeistert. Erst war ich nahe dran, mich darüber zu ärgern; aber dann tat es mir sehr leid, denn ich selbst liebte das Buch sehr."
Rita Bake:
Ein Jahr später, 1921, übernahm Erna Mohr die Verwaltung der Ferienvereinigung für das Fürstentum Lübeck, eine halbamtliche Organisation, die Hamburger Kinder in Ferienstellen auf dem Lande vermittelte. Erna Mohr klapperte jeden Bauernhof ab auf der Suche nach Ferienstellen für die Kinder.
In dieser Zeit fuhr sie in den Ferien wieder nach Tübingen, wo inzwischen ihr Bruder studierte und besuchte Dr. Soergel.
Birgit Kiupel:
"Ich stieg bald zu Soergel hinauf. Unterwegs rief ich mir alles mögliche aus den Vorjahren zurück, wie wir gute Kameraden gewesen waren und uns rückhaltlos über alles ausgesprochen hatten. Ich traf Soergel, der inzwischen zum Professor ernannt worden war, im Institut. Er stand bei meinem Hereinkommen auf, nahm den Federhalter von der rechten in die linke Hand, reichte mir die freie, trat einige Schritt zurück und stellte irgend eine gleichgültige Frage. Ich antwortete darauf und plauderte weiter, bis mir plötzlich zum Bewusstsein kam, dass er noch weiter zurück gewichen war und kaum oder gar nicht zuhörte. Als ich mit Sprechen innehielt daraufhin, drehte er sich mir wieder zu und sagte: ‚Ja, aber ich habe fürchterlich viel zu tun..' ‚Also rausgesetzt' dachte ich und verabschiedete mich schleunigst. Bei dem Händedruck meinte ich noch einen Rest der ehemaligen Herzlichkeit verspüren zu können; es mag auch wohl ein Irrtum gewesen sein. Um mich aber nicht gleich einzuspinnen, ging ich zu den Zoologen hinüber, um mit Prof. Prell Katzbalgereien anzufangen. Wir pflegten uns immer nach Kräften gegenseitig hinein zu legen und schätzten diesen Sport als geistige Gymnastik sehr.
Früher war kein Tag vergangen, an dem Soergel und ich uns nicht wenigstens beim abendlichen Umtrunk getroffen hätten. Meist verabredeten wir uns auch schon zu dem Spaziergang vorm Abendessen, und vollends die wenigen Sonntage, die wir gemeinsam an einem Ort waren, hatten wir immer gemeinsam verlebt. So dachte ich, vielleicht sei er wirklich so beschäftigt, dass ich ihm Tags über nur lästig wäre. Aber so leicht wollte ich ihn nicht ganz aufgeben, wo er mir soviel gewesen war. Da benutzte ich die Gelegenheit, das ich einige Minuten warten musste, um Prof. Hennig zu sprechen, um am Sonnabend-Mittag noch mal wieder zu Soergel zu gehen. Wenn er also dachte wie sonst, hätte er einen kleinen Spaziergang zu irgend einen Sonntag vorschlagen können. Aber das Bild war das gleiche wie zwei Tage vorher, wir konnten keine drei Minuten mit Gespräch ausfüllen. Zum zweiten Male hinausgeworfen werden, mochte ich nicht und ging gleich wieder. Ich wusste nicht, was ich daraus machen wollte und ging traurig davon.
Unter den Briefen, die ich nach Tübingen geschickt bekam, war einer gewesen mit grüßen und einer Frage von Wüst an Soergel. Ursprünglich hatte ich beabsichtigt, stillschweigend aus Tübingen abzumarschieren. Jetzt wollte ich den Auftrag von Wüst ausrichten, mich von Soergel verabschieden und ihn fragen, weshalb wir keine guten Kameraden mehr sein konnten. Aber es kam anders. Ich traf ihn zufällig in der Forelle, wo ich mit meinem Bruder aß. Er setzte sich in Ermangelung anderer Plätze an das freie Ende unseres Tisches und vergrub sich in Zeitungen, fragte drüber hinweg einiges über Wüst, sodass ich ihm meine Aufträge übermitteln konnte. Damit war das Gespräch wieder erschöpft, dann einige Fragen, die ich stellte, wurden wortlos mit Achselzucken abgetan. Was sollte ich da noch reden und fragen! Ich konnte nichts tun, als ihn verloren geben und merkte in meiner Betäubung kaum, dass er aufstand und nach einer Verbeugung aus der Ferne hastig fortging.
Ich fürchtete es bekäme mir schlecht, wenn ich noch länger in Tübingen bliebe, setzte den Rucksack auf und marschierte von Stuttgart über Ludwigsburg an den Neckar."
Rita Bake:
Erna Mohrs Aufzeichnungen enden mit dem Jahr 1921. Am Schluss schreibt sie.
Birgit Kiupel:
"Es kommt in dieser schönen Welt im letzten Ende darauf an, auf eigenen Füßen zu stehen und seines eigenen Glückes Schmid zu sein, so altmodisch das auch klingen mag. Lasse sie doch schmieden die Männer und Frauen! Lasse sie hämmern! Mann, Mensch, du musst ja für das alles bar bezahlen an jeder Wegkreuzung des Lebens - du musst bezahlen mitharter Münze, mit nagendem Jammer, mit Lebensjahren - du musst ganz unweigerlich bezahlen - und wenn du nur ein ganzer Mann, ein ganzer Mensch bist, der das frisst, was er gekocht hat, das erleidet, was er verschuldete, so magst du den Kopf hochhalten und den Pharisäer verlachen, sei er ein großer Herr oder kleiner Knecht, der dich schief anblickt."
Rita Bake:
Erst als ihr Chef Professor Duncker 1934 in Pension ging, wurde Erna Mohr aus dem Schuldienst beurlaubt, um die Abteilung für niedere Wirbeltiere zu übernehmen. Dort bewies sie enormes didaktisches Talent bei der Neugestaltung der öffentlichen Schausammlung. Überhaupt war es Erna Mohr ein großes Anliegen, ihr Fachwissen so verständlich wie möglich zu vermitteln, um auch einer breiten Öffentlichkeit Zugang zu ihren Forschungen zu verschaffen.
1936 folgte ein neuer Schritt: Erna Mohr erhielt auch die Abteilung für höhere Wirbeltiere und damit die Verantwortung für entscheidende Teile der Schausammlung des alten Zoologischen Museums.
Erna Mohr kämpfte für einen wissenschaftlich begründeten Naturschutz. So setzte sie sich für das vom Aussterben bedrohte europäische Wisent ein und arbeitete im Vorstand der "internationalen Gesellschaft zur Erhaltung des Wisents". Einer ihrer Spitznamen war "Wisent-Mama". Sie wurde die erste Zuchtbuchführerin aller in den Zoos lebenden Wisente und erreichte dadurch, dass die europäischen Wisente nicht mit ihren nordamerikanischen "Verwandten" gekreuzt wurden.
Auch den Fledermäusen widmete sie sich. Sie war der erste Mensch, dem es gelang, verwaiste Fledermausbabys mit einer Puppennuckelflasche großzuziehen. Daneben waren auch Ratten, Birkenmäuse, Kängurus, Schlitzrüssler, Leoparden und Robben ihre Schützlinge.
Im Rahmen ihre Studien begann sie Tiere zu halten. So spazierte sie mit dicken, großen Baumratten auf der Galerie des alten Zoologischen Museums umher, belauschte diese seltsamen Tiere und lernte sie in ihren Eigenarten kennen. Erna Mohr gilt als einer der Pioniere auf dem Gebiet der Verhaltensforschung der Säugetiere.
Sie war so fasziniert von ihrer Arbeit, dass sie selbst während des Zweiten Weltkriegs ihre als Soldaten eingezogenen Kollegen anschrieb und bat, im Feld Mäuse und andere Tiere zu sammeln und sie ihr zwecks Bestimmung der verschiedenen Arten zu zuschicken.
Birgit Kiupel: "Hamburg, Mai 1943 Liebe Leute! Schönste Grüße und Dank fürs Gedenken voraus an Militär und Zivil! Einige waren inzwischen auf Urlaub hier. Als erster guckte eines Sonntags der Herr Hollinger ein, als ich befehlsmäßig als Luftschutzfeuerwehrmann unsern Laden bewachte. Jetzt ist er in Fürstenwalde gelandet, also mit Schnecken aus dem "sonnigen Süden" ist es fürs erste alle. Hatte ich schon mal berichtet, dass Uffz. Heitmann lebende Taranteln schickte? Sie sind bei Prof. Degner in bester Pflege. Dr. Krefft schickte aus Südnorwegen ein Päckchen mit 5 Ährenmausfellen und Schädeln. Und als ich sie gerade auspackte, kam er höchst selbst zur Tür herein und überreichte mir das zum halben Dutzend fehlende Stück. Manchmal sind wir hier auch Selbstversorger mit Nagetieren aus der Umgebung. Da kam von der Wasserschutzpolizei eine im Harburger Fischereihafen erschlagene Bisamratte über. Sie sind bei uns gottlob immer noch so selten. Dies Vieh wimmelte von Milben - willkommene Sache! Ich brachte die ganze Musik zu Fritze Diehl rum, der aber vorzog, diese Octopusse erstmal mit Schwefelkohlenstoff zu behandeln. So wurden die Milben friedlich; Frau Dr. Weidner, die den Betrieb ihres Mannes aufrecht hält, sammelte sie runter, und jeder bekam von dem köstlichen Duft etwas ab. Nur noch eins an die Frontsoldaten! Beschreibungen ohne Belege reichen in den seltensten Fällen zur Bestimmung aus. Bei Reptilien tun sie das ebenso wenig wie bei Mäusen. So lange es sich nur um einzelne Stücke handelt, packt sie halt in vielfaches Zeitungspapier (damit die Brühe keine andern Sendungen verschmutzen kann) und schickt sie als Päckchen her. Stinken tun sie dann sicher, wenn sie ankommen. Aber das macht nichts; ich bin in dieser Beziehung Kummer gewohnt. Man wird vermutlich trotzdem noch sagen können, was es gewesen ist. Also, Herr Gaack, schicken Sie nur Ihr Wundertier; und wenn Sie auch für Mäuse interessieren sollten - dafür ist immer Bedarf, und eine Behandlungsanweisung werde ich demnächst mal vervielfältigen lassen. Einstweilen mal wieder viele herzliche Grüße von und aus unserm ‚Haus für eingemachte Sachen' und von Eurer Erna Mohr."
Rita Bake: 1943 zerstörten Bomben Erna Mohrs Werk. Sie ließ sich jedoch nicht entmutigen und machte sich sofort nach dem Krieg an den Wiederaufbau der Sammlungen. Als Anerkennung für ihren Einsatz wurde sie am 1. Januar 1946 von der Hochschulverwaltung als Kustos der Wirbeltierabteilung des Zoologischen Museums übernommen. Prof. Wolf Herre schrieb in einem Nachruf auf Erna Mohr: "Sie hat eine schwere Aufgabe gemeistert, weil sich damals in der Zeit der Raumnot in der Öffentlichkeit aber auch in der Wissenschaft eine Strömung breit zu machen versuchte, welche in der Hortung von Beständen für spätere Arbeiten keine Aufgabe oder gar Verpflichtung sah. Erna Mohr war in ihrem Idealismus von der Notwendigkeit des Sammelns von Material für spätere Arbeiten anderer Forscher durchdrungen. Sie empfand, dass Zeugnisse tierischer Mannigfaltigkeit in wissenschaftlichen Sammlungen eine der entscheidenden Grundlagen für die Zoologie als einer sicher fundierten Wissenschaft sind. (…) Erna Mohr hat ihre Überzeugung nicht nur in Hamburg durchzusetzen gewusst. Sie arbeitete in Museen vieler Städte und wies auch dort auf die Notwendigkeit des Sammlungsausbaus hin. Erna Mohr suchte auch kleine alte Museen auf, welche dem Untergang geweiht schienen. Dort hob sie die Schätze und verstand die Verantwortlichen mit schlichten, eindringlichen Worten über die Bedeutung dieser Bestände für die Geschichte der Wissenschaft und für zukünftige Forschungen zu überzeugen". Noch heute besteht der von ihr zusammengetragene Grundstock der wissenschaftlichen Sammlung. Und auch darin lebt sie weiter: in den Etiketten an den Sammlungsstücken. Die ließ sie nicht schreiben, das machte sie lieber selbst. Aber sie lebt auch weiter in ihren ca. 400 Veröffentlichungen. Gekleidet in einen Lodenmantel, mit Wanderschuhen an den Füßen und einer Einkaufstasche aus Plastik am Arm, in der ihre Manuskripte lagen, begab sie sich zu ihren Verlegern. Zuhause in ihrer Wohnung am Kraemerstieg warteten ihre Dackel und eine große Menagerie aus Porzellantieren auf sie. Erna Mohr erhielt hohe Auszeichnungen und Ehrungen: 1944 wurde sie zum Mitglied der Kaiserlichen-Leopoldinisch-Karolinischen Akademie der Naturforscher in Halle berufen. 1950 erhielt sie von der Universität München die Ehrendoktorwürde, und 1954 wurde sie Ehrenmitglied des "Verbandes deutscher Zoodirektoren". Letztere Ehrung begründete sich auf dem engen Kontakt, den Erna Mohr zu den Zoodirektoren Deutschlands hielt. Als Erna Mohr 1968, im Alter von 74 Jahren, starb, trafen aus ganz Europa Kranzspenden und Kondolenzschreiben ein. Vertreter zoologischer Gesellschaften und von Tiergärten der Bundesrepublik nahmen am feierlichen Abschied teil. 1984 wurde im Stadtteil Bergedorf eine Straße nach ihr benannt: die Erna-Mohr-Kehre.