Anita Sellenschloh
Lehrerin, Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus



26.12.1911
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4.11.1997
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4.11.1997
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Grablage Ohlsdorfer Friedhof: Geschwister-Scholl-Stiftung, Bo 73, 3
Nach ihr ist seit 2002 der Anita-Sellenschloh-Ring in Langenhorn benannt.
Tochter eines Eimsbüttler Bäckers, der wegen einer schweren Kriegsverletzung, die er sich im Ersten Weltkrieg zugezogen hatte, seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte und die meiste Zeit arbeitslos war. Wuchs in sehr armen Verhältnissen auf, musste bereits als Kind mitarbeiten, um zum kargen Unterhalt der Familie, die in der Satoriusstraße und später am Rellinger Weg lebte, beizutragen.
Trotzdem die Möglichkeit, die damalige "Reformschule" in der Telemannstraße, die die Selbstständigkeit und individuelle Entwicklung der Schülerinnen und Schüler förderte, zu besuchen.
Im Alter von sechzehn Jahren Beitritt zunächst bei den "Falken", der sozialistischen Arbeiterjugend, wechselte bald zum Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD). Nahm an Demonstrationen teil, spielte politisches Straßentheater, so in der Agit-Prop-Truppe "Rote Kolonne". Lernte Kurt von Appen kennen, verlobte sich mit ihm.
Im Rahmen ihrer Tätigkeit im KJVD 1929 ausgewählt für eine Delegation in die Sowjetunion. "Vier Monate arbeitete sie in einer Leningrader Zigarettenfabrik und fand engen Kontakt zu den russischen Arbeiterinnen. Zu dieser Zeit schien ihr Traum von einer sozialen Gleichheit in der Sowjetunion verwirklicht: Sie schlief mit der Betriebsleiterin in einem kleinen Zimmer auf dem Fabrikgelände und fühlte sich wie in einer Familie aufgenommen." 1)
Zurück in Deutschland 1930 beauftragt "mit dem Aufbau der Antifa-Jugend in Hamburg. Sammelte in dieser Tätigkeit wichtige Erfahrungen, die zu ihrem klugen Verhalten in der illegalen Arbeit während der NS-Zeit beigetragen haben.
Obwohl 1928 nach der mittleren Reife die Aufnahmeprüfung für eine Ausbildung als Sozialarbeiterin als Zweitbeste bestanden, keine Ausbildungsstelle: ein frühes, politisch motiviertes Ausbildungsverbot. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sie Lehrerin werden. Zwanzig Jahre lang hielt sie sich mit Jobs als Bürokraft in den unterschiedlichsten Hamburger Betrieben über Wasser. Die einzige politisch interessante Tätigkeit war ihre Arbeit im Verlag ‚Der Arbeitslose' unter dem Chefredakteur Hermann Beuck. Die Zeitung mit dem Untertitel ‚Kampforgan der Erwerbslosen, Pflicht- und Fürsorgearbeiter' sollte die Arbeitslosen politisch informieren und aktivieren, gleichzeitig umfaßte sie einen umfangreichen Inseratenteil. Nach Verbüßung seiner Haft in der Festung Bergedorf traf Anita in der Redaktion auch Willi Bredel, der Artikel für die Zeitung verfaßte.
Ende 1931 wurde der Hamburger Verlag aufgelöst und die Anzeigenwerbung in Berlin zentralisiert. (…) Vier bis fünf Akquisiteure besorgten aus dem ganzen Reich Anzeigen, meist von kleinen Geschäftsleuten. In der Verwaltung arbeiteten acht bis neun Mitarbeiter. Anita leitete zusammen mit Martha Bleckmann die Mahnabteilung. Hier arbeitete Anita mit der Hamburgerin Lucie Suhling [siehe: Lucie-Suhling-Weg] zusammen. Zwischen den beiden entwickelte sich eine enge Freundschaft, (…)." 1)
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 Verbot der Zeitung, Rückkehr Anita Sellenschlohs nach Hamburg. Bis 1943 neun Mal verhaftet, während der Verhöre im "Stadthaus" - dem Gestapo-Hauptquartier - brutal misshandelt und mehrere Male inhaftiert.
Das erste Mal Verhaftung im Juni 1933, kam in Einzelhaft ins UG Hamburg: " ‚Kurt und ich hatten einen Liedanfang. Ich saß im obersten Stockwerk in der Zelle. So oft es möglich war, kam Kurt unten die Wallanlagen entlang und pfiff dieses Lied. Ich ging dann an das Zellenfenster, und so konnten wir uns sehen und heimlich zuwinken. Natürlich war es verboten und ich mußte sehr aufpassen. Aber irgendwie schafften wir es immer. (..) Das letztemal sah ich ihn vom Zellenfenster aus…' Während Anita von diesem letzten Blick, den beide tauschten, spricht, sucht sie Fotos heraus. ‚Nur wenige Fotos sind mir geblieben.' Sie bewahrt sie sorgfältig in einem wunderschönen Holzkästchen auf. ‚Eine Intarsienarbeit. Kurt hat sie mir gemacht - eine kunstvolle Arbeit. Er war ein hervorragender Kunsttischler.' In diesem Kästchen hütet sie auch seine Briefe." 2)
Sofort nach der Freilassung, schreiben und verteilen von Flugblättern und Kuriertätigekiten zwischen verschiedenen Widerstandsgruppen.
1937 erneute Verhaftung. Nachdem die Gestapo erfahren hatte, dass Anita Sellenschloh Briefe aus Spanien erhalten hatte, wohin Kurt von Appen gegangen war, um dort in den internationalen Brigaden gegen den Faschismus zu kämpfen, teilte "ihr der Chef der Gestapo, Kraus, mit zynischem Lächeln mit: ‚Kurt von Appen ist vor Madrid gefallen.' Sie wird abgeführt - in eine dunkle Einzelzelle gesperrt und weiß nicht, soll sie glauben, was er sagte, oder ist es eine Lüge, um sie einzuschüchtern. Sie ist 25 Jahre alt und will es nicht glauben." 2)
1943 Heirat mit dem Gewerbeoberlehrer Sellenschloh, ein politisch Gleichgesinnter, Geburt einer Tochter, Flucht mit ihrer Familie aus dem durch die Bombenangriffe schwer zerstörten Hamburg aufs Land nach Schleswig-Holstein.
Nach Kriegsende Ausbildung im Seminar von Anna Siemsen zur Lehrerin, ein langgehegter Berufswunsch. Unterrichtete ab 1948 an der Fritz-Schumacher-Schule, bis sie 1952 an der Volks- und Realschule Am Heidberg Lehrerin wurde. Hier arbeitete sie bis zu ihrer Pensionierung 1974. Ein Schwerpunkt ihres Unterrichts war die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus.
Erhielt 1947 von einem ehemaligen Spanienkämpfer die Bestätigung, dass Kurt Appen 1936 "gefallen" war.
"Eine bittere Erfahrung mußte sie mit ihrer eigenen Partei machen: 1951 wurde sie aus der KPD ausgeschlossen. Ihr angebliches Vergehen gegen die Parteidisziplin: eine nicht ‚genehmigte' Fahrt zu Genossen nach Dänemark. Dieser Ausschluß traf sie tiefer als alle Erniedrigungen in der NS-Zeit: grundlos von den eigenen Freunden und Genossen geschnitten zu werden, ist weit schlimmer als zu wissen, wofür man kämpft und Opfer auf sich nimmt. Trotzdem blieb Anita bis zu ihrem Tode eine überzeugte Kommunistin." 1)
Nach ihrer Pensionierung widmete sie sich verstärkt ihrem sozialen Engagement, trat als Zeitzeugin an Schulen und Universitäten auf, war eine der Gründerinnen der Willi-Bredel-Gesellschaft e.V., Mitglied bei der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), und beim Auschwitz-Komitee.
Text: Rita Bake
Quellen:
1) Rundbrief 1998 der Willi-Bredel-Gesellschaft, Geschichtswerkstatt e.V.
2) Gerda Zorn: Rote Großmütter, gestern und heute. Köln 1989, S. 28f.
2 Gerda Zorn, a. a. O., S. 29.