Hannchen Sieveking
geb. Reimarus
Mittelpunkt des gesellschaftlichen Treffpunktes auf dem Sievekingschen Landhaus in Neumühlen


20.11.1760
Hamburg
-
12.6.1832
Hamburg
Hamburg
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12.6.1832
Hamburg
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Ohlsdorfer Friedhof Grab Nr. S 26, 1-10
Sievekingdamm, Hamm, seit 1945, benannt nach ihrem Sohn Dr. Karl Sieveking (1787-1847)
Caspar Voght, der wohl engste Freund, schrieb in seinen Lebenserinnerungen über Hannchen Sieveking: "Der Geist des alten Vaters ruhte in ihren Zügen; der Ton ihrer Stimme drang ins Herz des Leidenden, den ihre Blicke an sich zu ziehen schienen. Ihr Leben war Liebe, ihre Liebe war Tat. Mit dieser Liebe hing sie an mir und meiner Geliebten." 3), und ein Jahr vor seinem Tode 1838, als er seinen Abschiedsbrief verfasste, bekannte er seinem Patenkind, Hannchens Sohn Karl Sieveking: "Sie hat mich am besten verstanden und am dauerndsten und am reinsten geliebt." 4) Auch wenn der Ton Wilhelm von Humboldts im Ganzen zurückhaltender ist, spricht auch aus ihm Verehrung und Anerkennung:
"Frau Sieveking hat ein anziehendes und vielversprechendes Äußeres, und man findet in ihr das überaus seltene Talent, einer sehr großen Haushaltung im genauesten Verstande treu und aufmerksam vorzustehen, und sich doch darum ganz und gar nicht der Gesellschaft zu entziehen. Dabei ist sie durchaus anspruchslos und bescheiden. Es ist schlechterdings unmöglich, angenehmer, als in ihrem Hause zu sein, in dem sich aller Überfluß des Reichtums mit der ganzen natürlichen Einfachheit des Mittelstandes verbindet." 5)
Und auch Hannchen Sievekings eigene Worte bestätigen dieses übereinstimmende Bild der Zeitgenossen, als sie am Ende ihres Lebens sich und ihr Wirken in einem Brief an ihre Kinder darstellt. "Ich fühle, daß ich alt werde und erschrecke nicht, denn ich bin mir keines Unrechts bewußt; nichts, was an meiner Ruhe nagt. Ich vertraue auf Gott und danke ihm für sor viel Gutes, was mir geworden ist und mein Alter freundlich macht. Das Schicksal und die Unvollkommenheiten des Lebens lehrten mich, kleine Plackereien zu ertragen. So werde ich denn das Leben voll Dank und Liebe verlassen. Gott segne Euch in Euren Kindern und gebe und erhalte Euch Freunde wie ich sie hatte und noch habe; dann veraltet und verkümmert das Herz nicht. Die nicht mehr sind, leben in uns fort, denn nichts vergeht ohne Spur, und die göttliche fühlen wir." 6)
Hannchen, wie sie allgemein genannt wurde, war eine geborene Reimarus, Tochter aus einer der ersten Familien der Stadt. Ihr Vater war der Arzt und Gelehrte Johann Albert Heinrich Reimarus, die Mutter Anna Maria Thorbecke. Hannchen heiratete einen der kenntnisreichsten Hamburger Kaufleute der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Georg Heinrich Sieveking. Die Familien Reimarus und Sieveking bildeten um sich herum zwei bedeutende gesellschaftliche Kreise der Stadt.
Nach dem sehr frühen Tod der Mutter am 17. Januar 1762 nahm sich Elise Reimarus, die Schwester von Johann Albert Heinrich Reimarus, der Nichte an. Als der Vater Sophie Hennings, die Schwester des Aufklärers August Hennings, heiratete, entfaltete sich im Hause eine reichhaltige Gastlichkeit. Hier traf sich alles, was von geistiger und literarischer Bedeutung in der Stadt war oder dorthin kam. So verkehrten hier auch die Kaufleute Caspar Voght und Georg Heinrich Sieveking, die seit dem Tod von Voghts Vater im Jahre 1781 dessen Firma gemeinsam führten. Am 2. Oktober 1782, nach zweimonatiger Verlobungszeit, wurde die Hochzeit gefeiert.
Das Paar wohnte zunächst in Harvestehude, denn wenn möglich, zog man damals aus der Enge der Stadt uns Freie. In Harvestehude wurden die ersten beiden Kinder Johannes (1785) und Karl (1787) geboren. Bald jedoch musste die kleine Familie das nur gemietete Haus verlassen, sie zog an den Neuen Wall 149, wo auch das Kontor untergebracht war. Ein Garten vor dem Dammtor ermöglichte jetzt, der Stadt zu entfliehen. Hier wurde am 14. Juli 1790, dem ersten Jahrestag der Erstürmung der Bastille, die berühmte Revolutionsfeier abgehalten, die Hamburg den Ruf einer liberalen Oase einbrachte.
Im Jahre 1793 erwarb man gemeinsam mit zwei Freunden, dem Kaufmann Conrad Johann Matthiessen und dem Schriftsteller und Herausgeber des "Altonaer Merkur" Piter Poel, ein Landhaus in Neumühlen, ein schlichtes Anwesen, auf dem Hang gelegen, mit einem herrlichen Blick über die Elbe. Für die Ausgestaltung von Haus und Garten holte man sich den aus Frankreich stammenden Baumeister und Gartenarchitekten Joseph Ramée. Während Matthiessen nach drei Jahren, bei seiner Vermählung, aus der Gemeinschaft ausschied, lebten die Familien Sieveking und Poel in Eintracht miteinander weiter, die Frauen führten in wöchentlichem Wechsel den Haushalt: "Friederike und ich leben sehr innig zusammen; wir haben herausgefunden, daß wir in dieser kleinen Republik die Gewalt haben, und da wir nur das Gute wollen, behält das Gute die Oberhand," 7) schrieb Hannchen Sieveking 1794 an Voght. Der Landsitz in Neumühlen entwickelte sich zu einem geselligen Mittelpunkt der Stadt, und das war in erster Linie Hannchen Sieveking zu verdanken. Sie war sicherlich keine intellektuelle Frau wie ihre Stiefmutter Sophie Reimarus und wohl zu recht hatte Elise Reimarus über die Nichte geurteilt: "Sie ist neunzehnjährig, nicht sehr für die Philosophie, recht liebenswürdig und beliebt: Wenn sie doch nur einen guten Mann kriegte." 8) Hannchens Talente lagen ganz offensichtlich mehr im Bereich der Herzensbildung als der Bildung, dort aber, wie die vielen Stimmen von Zeitzeugen belegen, in ganz ungewöhnlichem Maße.
Bei den Geselligkeiten auf dem Landsitz in Neumühlen ging es viel lebhafter und mannigfaltiger als am "Theetisch" im Hause Reimarus zu. Es war im Handelshaus, dem Sieveking zu Weltruf verholfen hatte - Voght war 1793 ausgeschieden, weil seiner geistigen Unabhängigkeit jedes Geschäft zuwider war -, üblich geworden, alle Fremden, die in Geschäften kamen, für den nächsten Sonntag nach Neumühlen einzuladen. Dazu gesellten sich Freunde aus der Stadt und durchreisende Schriftsteller und Gelehrte, später auch unzählige Emigranten. Oft wurde am Sonntag der Tisch für 80 und mehr Personen gedeckt. Karl August Böttiger berichtet, wie zwanglos und herzlich es dabei zuging: "Die Tafel ist gut und fein und reichlich, aber nicht übermäßig besetzt (…). Jeder nimmt sich oder läßt sich geben, von welcher Schüssel er will (…). Jeder fordert sich Wein, welchen er will (…). Jeder steht vom Tische auf, geht zu einem Andern, zu Mehreren, zu Allen, wie es ihm einfällt, und so lange es ihm gefällt. (…) Er geht dann in den Garten, (…) besieht Kupferstiche, Gemälde, durchblättert Bücher (…). Kurz, jeder ist frei für sich und hat keine andre Verbindlichkeit, als andre ebenso frei zu lassen, wie er selbst ist." 9) Hier in Neumühlen wurden Klopstocks Geburtstage begangen, Hochzeiten und Taufen von Mitgliedern aus dem weiteren Familienkreis gefeiert. Im Sommer weilten häufig Logiergäste in dem geräumigen Haus.
Auch wenn immer wieder von dem unausgeglichenen und aufbrausenden Temperament Sievekings zu lesen ist, unter dem Hannchen zu leiden hatte, so dass Josef Nyary am 17.3.1977 im "Hamburger Abendblatt" meinte, urteilen zu können, "für die Braut wurde es keine leichte Ehe", soll hier festgehalten werden, dass Hannchen selbst es offenbar anders sah. In einem Brief an ihren Mann schrieb sie: "Ich kann's Dir nicht oft genug wiederholen, daß es mich unendlich freut, daß ich wirklich das Vermögen habe, Dich glücklich zu machen, daß ich das wirklich kann. Gewollt habe ich's gewiß immer, aber ich habe oft daran gezweifelt, weil ich an mir selbst zweifelte. Glaubst Du's nicht auch, daß wir auch auf die Länge glücklich sein werden, daß wir uns nur noch immer fester aneinander ketten werden? Wenn ich das so nachdenke, so deucht es mich zuviel verlangt, zuviel vorgestellt, und dann fange ich an, für die Zukunft zu zittern. Was haben wir für so viele Menschen voraus, die so ein hartes Schicksal haben? Und die vielleicht besser sind als wir? Ich schäme mich oft meiner Undankbarkeit, aber das Herz ist mir doch so schwer, daß ich nicht imstande bin, die Grillen los zu werden. Just eben zu der Zeit, wenn ich am lebhaftesten fühle, am deutlichsten einsehe, wie ohne alles Verdienst mein Schicksal so gütig ist, dann sehe ich's auch am deutlichsten, daß noch vieles über uns verhängt ist, und daß unser Leben nicht immer so schlichtweg fortdauern kann." 10)
Hannchen sollte mit ihren Ängsten recht behalten. Am 25. Januar 1799, drei Tage vor seinem 48. Geburtstag, starb Georg Heinrich Sieveking nach einem schweren Brustkrampf. Nach 16jähriger Ehe stand Hannchen Sieveking mit 38 Jahren und fünf Kindern, von denen das älteste 13 Jahre, das jüngste noch kein Jahr alt war, alleine da.
Sie führte das Handelshaus zunächst zusammen mit den Teilhabern Bertheau und Schlüter weiter und erhielt auch der Familie und den Freunden den Landsitz in Neumühlen. Bedingt durch die Kontinentalsperre wurden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten jedoch so groß, dass das Handelshaus 1811 Konkurs anmelden musste: "Über Sievekings trauerte die ganze Stadt", 11) schrieb Henriette Harder, die Tochter des Senators Johann G. Graepel, an ihre Stiefschwester. 1810 hatte Hannchen bereits ein Schicksalsschlag getroffen, als die einzige Tochter, Sophie, achtzehnjährig an einer Lungenentzündung starb. Zu ähnlicher Selbstverleugnung wie ihre Mutter geneigt, war die Kränkelnde in einer stürmischen Nacht auf Notrufe von der Elbe zu Nachbarn gelaufen, um Hilfe zu holen.
Voller Bewunderung berichtete Piter Poel, mit welcher Haltung und Souveränität Hannchen Sieveking den Unglücksfällen begegnete: "Trotz vollkommenster Weiblichkeit besitzt sie einen männlichen Geist, der ungetrübt durch Vorurteil und Illusionen, die Verhältnisse klar durchschaut und männlich wie ihr Verstand, ist auch ihr Mut, wenn große Unglückfälle ihr schwere Opfer auferlegen, Ich habe sie in dem Augenblicke gesehen, in welchem ihr angekündigt wurde, daß ihr Handlungshaus seine Zahlungen einstellen müsse (…), da erklärte die Sieveking sogleich mit der größten Fassung, daß sie alles unbedingt in die Hände der ratenden Freunde lege, die ihr ganzes Vertrauen, wie das des Publikums besäßen; nur bat sie, soweit es auf eine rechtliche Weise geschehen könne, Rücksicht auf die nicht vermögenden Freunde zu nehmen, die ihre Gelder dem Haus anvertraut hätten. Für sie selbst war ihr Entschluß augenblicklich gefaßt; sie gab Haus und Garten mit allen Kostbarkeiten auf und kehrte zurück in die väterliche Wohnung, um wieder, wie sie sagte, in die Verhältnisse einzutreten, in denen sie sich als 20jähriges Mädchen so glücklich gefühlt; ihre Knaben würden sich schon wie so viele andere ohne Vermögen, vielleicht sogar zu ihrem Besten, durchschlagen; für die Tochter hatte sie nicht mehr zu sorgen, die war bereits im Frühjahr vorher gestorben." 12)
Hannchens Vaters starb im Jahre 1814, die Mutter, die lange bettlägrig gewesen und von Hannchen aufopfernd gepflegt worden war, am 30. September 1817. Nach dem Tod war, am 30. September 1817. Nach dem Tod der Eltern verdiente Hannchen ihren Unterhalt, indem sie einige Zimmer vermietete, zumeist an junge Kaufleute aus bekannten Familien. An einem Abend in der Woche lud sie zum Teetisch ein, zu dem sich auch die alten Freunde einstellten. Und auch Caspar Voght mietete sich manchmal im Winter bei ihr ein. Er, der u. a. wegen seiner unmöglichen Liebe zu der Freundin Hannchens, Magdalena Pauli, auf jahrelange reisen gegangen war und mit dem Hannchen einen vielseitigen und regen Briefwechsel geführt und den Postillon d'amour für ihn gemacht hatte, war endgültig auf seinen Landsitz nach Flottbek zurückgekehrt. Hier, wo inzwischen auch Piter Poel mit seiner Familie lebte und Magdalena Pauli sich oft aufhielt, war Hannchen häufig zu Gast. Text: Brita Reimers
Quellen:
1) Joist Grolle: Karl Sieveking, in: Hamburgische Biografie. Personenlexikon. Hrsg. von Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke. Bd. 2. Göttingen, 2006, S. 362. In dieser Biografie noch Weiteres zum Schaffen Karl Sievekings.
2) Gabriele Hoffmann: Das Haus an der Elbchaussee. Die Godeffroys - Aufstieg und Niedergang einer Dynastie. Hamburg 1998, S. 90 f.
3) Zit. nach: Georg Heinrich Sieveking: Lebensbild eines Hamburgischen Kaufmanns aus dem Zeitalter der französischen Revolution. Kapitel VII. Berlin 1913.
4) Zit. nach: Georg Heinrich Sieveking, a. a. O.
5) Zit. nach: Georg Heinrich Sieveking, a. a. O.
6) Zit. nach: Alfred Aust: "Mir ward ein schönes Loos", Liebe und Freundschaft im Leben des Reichsfreiherrn Caspar von Voght. Hamburg 1972.
7) Zit. nach: Georg Heinrich Sieveking, a. a. O.
8) Zit. nach Alfred Aust, a. a. O.
9) Zit. nach: Georg Heinrich Sieveking, a, a. O.
10) Zit. nach: Georg Heinrich Sieveking, a. a. O.
11) Zit. nach: Alfred Aust, a. a. O.
12) Gustav Poel: Bilder aus vergangener Zeit nach Mitteilungen aus großenteils ungedruckten Familienpapieren, Teil II. Kapitel I. Hamburg 1887.
Sievekingdamm, Hamm, seit 1945, benannt nach ihrem Sohn Dr. Karl Sieveking (1787-1847)
Caspar Voght, der wohl engste Freund, schrieb in seinen Lebenserinnerungen über Hannchen Sieveking: "Der Geist des alten Vaters ruhte in ihren Zügen; der Ton ihrer Stimme drang ins Herz des Leidenden, den ihre Blicke an sich zu ziehen schienen. Ihr Leben war Liebe, ihre Liebe war Tat. Mit dieser Liebe hing sie an mir und meiner Geliebten." 3), und ein Jahr vor seinem Tode 1838, als er seinen Abschiedsbrief verfasste, bekannte er seinem Patenkind, Hannchens Sohn Karl Sieveking: "Sie hat mich am besten verstanden und am dauerndsten und am reinsten geliebt." 4) Auch wenn der Ton Wilhelm von Humboldts im Ganzen zurückhaltender ist, spricht auch aus ihm Verehrung und Anerkennung:
"Frau Sieveking hat ein anziehendes und vielversprechendes Äußeres, und man findet in ihr das überaus seltene Talent, einer sehr großen Haushaltung im genauesten Verstande treu und aufmerksam vorzustehen, und sich doch darum ganz und gar nicht der Gesellschaft zu entziehen. Dabei ist sie durchaus anspruchslos und bescheiden. Es ist schlechterdings unmöglich, angenehmer, als in ihrem Hause zu sein, in dem sich aller Überfluß des Reichtums mit der ganzen natürlichen Einfachheit des Mittelstandes verbindet." 5)
Und auch Hannchen Sievekings eigene Worte bestätigen dieses übereinstimmende Bild der Zeitgenossen, als sie am Ende ihres Lebens sich und ihr Wirken in einem Brief an ihre Kinder darstellt. "Ich fühle, daß ich alt werde und erschrecke nicht, denn ich bin mir keines Unrechts bewußt; nichts, was an meiner Ruhe nagt. Ich vertraue auf Gott und danke ihm für sor viel Gutes, was mir geworden ist und mein Alter freundlich macht. Das Schicksal und die Unvollkommenheiten des Lebens lehrten mich, kleine Plackereien zu ertragen. So werde ich denn das Leben voll Dank und Liebe verlassen. Gott segne Euch in Euren Kindern und gebe und erhalte Euch Freunde wie ich sie hatte und noch habe; dann veraltet und verkümmert das Herz nicht. Die nicht mehr sind, leben in uns fort, denn nichts vergeht ohne Spur, und die göttliche fühlen wir." 6)
Hannchen, wie sie allgemein genannt wurde, war eine geborene Reimarus, Tochter aus einer der ersten Familien der Stadt. Ihr Vater war der Arzt und Gelehrte Johann Albert Heinrich Reimarus, die Mutter Anna Maria Thorbecke. Hannchen heiratete einen der kenntnisreichsten Hamburger Kaufleute der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Georg Heinrich Sieveking. Die Familien Reimarus und Sieveking bildeten um sich herum zwei bedeutende gesellschaftliche Kreise der Stadt.
Nach dem sehr frühen Tod der Mutter am 17. Januar 1762 nahm sich Elise Reimarus, die Schwester von Johann Albert Heinrich Reimarus, der Nichte an. Als der Vater Sophie Hennings, die Schwester des Aufklärers August Hennings, heiratete, entfaltete sich im Hause eine reichhaltige Gastlichkeit. Hier traf sich alles, was von geistiger und literarischer Bedeutung in der Stadt war oder dorthin kam. So verkehrten hier auch die Kaufleute Caspar Voght und Georg Heinrich Sieveking, die seit dem Tod von Voghts Vater im Jahre 1781 dessen Firma gemeinsam führten. Am 2. Oktober 1782, nach zweimonatiger Verlobungszeit, wurde die Hochzeit gefeiert.
Das Paar wohnte zunächst in Harvestehude, denn wenn möglich, zog man damals aus der Enge der Stadt uns Freie. In Harvestehude wurden die ersten beiden Kinder Johannes (1785) und Karl (1787) geboren. Bald jedoch musste die kleine Familie das nur gemietete Haus verlassen, sie zog an den Neuen Wall 149, wo auch das Kontor untergebracht war. Ein Garten vor dem Dammtor ermöglichte jetzt, der Stadt zu entfliehen. Hier wurde am 14. Juli 1790, dem ersten Jahrestag der Erstürmung der Bastille, die berühmte Revolutionsfeier abgehalten, die Hamburg den Ruf einer liberalen Oase einbrachte.
Im Jahre 1793 erwarb man gemeinsam mit zwei Freunden, dem Kaufmann Conrad Johann Matthiessen und dem Schriftsteller und Herausgeber des "Altonaer Merkur" Piter Poel, ein Landhaus in Neumühlen, ein schlichtes Anwesen, auf dem Hang gelegen, mit einem herrlichen Blick über die Elbe. Für die Ausgestaltung von Haus und Garten holte man sich den aus Frankreich stammenden Baumeister und Gartenarchitekten Joseph Ramée. Während Matthiessen nach drei Jahren, bei seiner Vermählung, aus der Gemeinschaft ausschied, lebten die Familien Sieveking und Poel in Eintracht miteinander weiter, die Frauen führten in wöchentlichem Wechsel den Haushalt: "Friederike und ich leben sehr innig zusammen; wir haben herausgefunden, daß wir in dieser kleinen Republik die Gewalt haben, und da wir nur das Gute wollen, behält das Gute die Oberhand," 7) schrieb Hannchen Sieveking 1794 an Voght. Der Landsitz in Neumühlen entwickelte sich zu einem geselligen Mittelpunkt der Stadt, und das war in erster Linie Hannchen Sieveking zu verdanken. Sie war sicherlich keine intellektuelle Frau wie ihre Stiefmutter Sophie Reimarus und wohl zu recht hatte Elise Reimarus über die Nichte geurteilt: "Sie ist neunzehnjährig, nicht sehr für die Philosophie, recht liebenswürdig und beliebt: Wenn sie doch nur einen guten Mann kriegte." 8) Hannchens Talente lagen ganz offensichtlich mehr im Bereich der Herzensbildung als der Bildung, dort aber, wie die vielen Stimmen von Zeitzeugen belegen, in ganz ungewöhnlichem Maße.
Bei den Geselligkeiten auf dem Landsitz in Neumühlen ging es viel lebhafter und mannigfaltiger als am "Theetisch" im Hause Reimarus zu. Es war im Handelshaus, dem Sieveking zu Weltruf verholfen hatte - Voght war 1793 ausgeschieden, weil seiner geistigen Unabhängigkeit jedes Geschäft zuwider war -, üblich geworden, alle Fremden, die in Geschäften kamen, für den nächsten Sonntag nach Neumühlen einzuladen. Dazu gesellten sich Freunde aus der Stadt und durchreisende Schriftsteller und Gelehrte, später auch unzählige Emigranten. Oft wurde am Sonntag der Tisch für 80 und mehr Personen gedeckt. Karl August Böttiger berichtet, wie zwanglos und herzlich es dabei zuging: "Die Tafel ist gut und fein und reichlich, aber nicht übermäßig besetzt (…). Jeder nimmt sich oder läßt sich geben, von welcher Schüssel er will (…). Jeder fordert sich Wein, welchen er will (…). Jeder steht vom Tische auf, geht zu einem Andern, zu Mehreren, zu Allen, wie es ihm einfällt, und so lange es ihm gefällt. (…) Er geht dann in den Garten, (…) besieht Kupferstiche, Gemälde, durchblättert Bücher (…). Kurz, jeder ist frei für sich und hat keine andre Verbindlichkeit, als andre ebenso frei zu lassen, wie er selbst ist." 9) Hier in Neumühlen wurden Klopstocks Geburtstage begangen, Hochzeiten und Taufen von Mitgliedern aus dem weiteren Familienkreis gefeiert. Im Sommer weilten häufig Logiergäste in dem geräumigen Haus.
Auch wenn immer wieder von dem unausgeglichenen und aufbrausenden Temperament Sievekings zu lesen ist, unter dem Hannchen zu leiden hatte, so dass Josef Nyary am 17.3.1977 im "Hamburger Abendblatt" meinte, urteilen zu können, "für die Braut wurde es keine leichte Ehe", soll hier festgehalten werden, dass Hannchen selbst es offenbar anders sah. In einem Brief an ihren Mann schrieb sie: "Ich kann's Dir nicht oft genug wiederholen, daß es mich unendlich freut, daß ich wirklich das Vermögen habe, Dich glücklich zu machen, daß ich das wirklich kann. Gewollt habe ich's gewiß immer, aber ich habe oft daran gezweifelt, weil ich an mir selbst zweifelte. Glaubst Du's nicht auch, daß wir auch auf die Länge glücklich sein werden, daß wir uns nur noch immer fester aneinander ketten werden? Wenn ich das so nachdenke, so deucht es mich zuviel verlangt, zuviel vorgestellt, und dann fange ich an, für die Zukunft zu zittern. Was haben wir für so viele Menschen voraus, die so ein hartes Schicksal haben? Und die vielleicht besser sind als wir? Ich schäme mich oft meiner Undankbarkeit, aber das Herz ist mir doch so schwer, daß ich nicht imstande bin, die Grillen los zu werden. Just eben zu der Zeit, wenn ich am lebhaftesten fühle, am deutlichsten einsehe, wie ohne alles Verdienst mein Schicksal so gütig ist, dann sehe ich's auch am deutlichsten, daß noch vieles über uns verhängt ist, und daß unser Leben nicht immer so schlichtweg fortdauern kann." 10)
Hannchen sollte mit ihren Ängsten recht behalten. Am 25. Januar 1799, drei Tage vor seinem 48. Geburtstag, starb Georg Heinrich Sieveking nach einem schweren Brustkrampf. Nach 16jähriger Ehe stand Hannchen Sieveking mit 38 Jahren und fünf Kindern, von denen das älteste 13 Jahre, das jüngste noch kein Jahr alt war, alleine da.
Sie führte das Handelshaus zunächst zusammen mit den Teilhabern Bertheau und Schlüter weiter und erhielt auch der Familie und den Freunden den Landsitz in Neumühlen. Bedingt durch die Kontinentalsperre wurden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten jedoch so groß, dass das Handelshaus 1811 Konkurs anmelden musste: "Über Sievekings trauerte die ganze Stadt", 11) schrieb Henriette Harder, die Tochter des Senators Johann G. Graepel, an ihre Stiefschwester. 1810 hatte Hannchen bereits ein Schicksalsschlag getroffen, als die einzige Tochter, Sophie, achtzehnjährig an einer Lungenentzündung starb. Zu ähnlicher Selbstverleugnung wie ihre Mutter geneigt, war die Kränkelnde in einer stürmischen Nacht auf Notrufe von der Elbe zu Nachbarn gelaufen, um Hilfe zu holen.
Voller Bewunderung berichtete Piter Poel, mit welcher Haltung und Souveränität Hannchen Sieveking den Unglücksfällen begegnete: "Trotz vollkommenster Weiblichkeit besitzt sie einen männlichen Geist, der ungetrübt durch Vorurteil und Illusionen, die Verhältnisse klar durchschaut und männlich wie ihr Verstand, ist auch ihr Mut, wenn große Unglückfälle ihr schwere Opfer auferlegen, Ich habe sie in dem Augenblicke gesehen, in welchem ihr angekündigt wurde, daß ihr Handlungshaus seine Zahlungen einstellen müsse (…), da erklärte die Sieveking sogleich mit der größten Fassung, daß sie alles unbedingt in die Hände der ratenden Freunde lege, die ihr ganzes Vertrauen, wie das des Publikums besäßen; nur bat sie, soweit es auf eine rechtliche Weise geschehen könne, Rücksicht auf die nicht vermögenden Freunde zu nehmen, die ihre Gelder dem Haus anvertraut hätten. Für sie selbst war ihr Entschluß augenblicklich gefaßt; sie gab Haus und Garten mit allen Kostbarkeiten auf und kehrte zurück in die väterliche Wohnung, um wieder, wie sie sagte, in die Verhältnisse einzutreten, in denen sie sich als 20jähriges Mädchen so glücklich gefühlt; ihre Knaben würden sich schon wie so viele andere ohne Vermögen, vielleicht sogar zu ihrem Besten, durchschlagen; für die Tochter hatte sie nicht mehr zu sorgen, die war bereits im Frühjahr vorher gestorben." 12)
Hannchens Vaters starb im Jahre 1814, die Mutter, die lange bettlägrig gewesen und von Hannchen aufopfernd gepflegt worden war, am 30. September 1817. Nach dem Tod war, am 30. September 1817. Nach dem Tod der Eltern verdiente Hannchen ihren Unterhalt, indem sie einige Zimmer vermietete, zumeist an junge Kaufleute aus bekannten Familien. An einem Abend in der Woche lud sie zum Teetisch ein, zu dem sich auch die alten Freunde einstellten. Und auch Caspar Voght mietete sich manchmal im Winter bei ihr ein. Er, der u. a. wegen seiner unmöglichen Liebe zu der Freundin Hannchens, Magdalena Pauli, auf jahrelange reisen gegangen war und mit dem Hannchen einen vielseitigen und regen Briefwechsel geführt und den Postillon d'amour für ihn gemacht hatte, war endgültig auf seinen Landsitz nach Flottbek zurückgekehrt. Hier, wo inzwischen auch Piter Poel mit seiner Familie lebte und Magdalena Pauli sich oft aufhielt, war Hannchen häufig zu Gast. Text: Brita Reimers
Quellen:
1) Joist Grolle: Karl Sieveking, in: Hamburgische Biografie. Personenlexikon. Hrsg. von Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke. Bd. 2. Göttingen, 2006, S. 362. In dieser Biografie noch Weiteres zum Schaffen Karl Sievekings.
2) Gabriele Hoffmann: Das Haus an der Elbchaussee. Die Godeffroys - Aufstieg und Niedergang einer Dynastie. Hamburg 1998, S. 90 f.
3) Zit. nach: Georg Heinrich Sieveking: Lebensbild eines Hamburgischen Kaufmanns aus dem Zeitalter der französischen Revolution. Kapitel VII. Berlin 1913.
4) Zit. nach: Georg Heinrich Sieveking, a. a. O.
5) Zit. nach: Georg Heinrich Sieveking, a. a. O.
6) Zit. nach: Alfred Aust: "Mir ward ein schönes Loos", Liebe und Freundschaft im Leben des Reichsfreiherrn Caspar von Voght. Hamburg 1972.
7) Zit. nach: Georg Heinrich Sieveking, a. a. O.
8) Zit. nach Alfred Aust, a. a. O.
9) Zit. nach: Georg Heinrich Sieveking, a, a. O.
10) Zit. nach: Georg Heinrich Sieveking, a. a. O.
11) Zit. nach: Alfred Aust, a. a. O.
12) Gustav Poel: Bilder aus vergangener Zeit nach Mitteilungen aus großenteils ungedruckten Familienpapieren, Teil II. Kapitel I. Hamburg 1887.