Lavinia Schulz
Maskentänzerin, Mode- und Kostümbildnerin, Entwicklung von eigenen Bühnentänzen (1920-1924), selbst entworfene Ganzkörpermasken


Lavinia Schulz als Tanzbertchen



23.6.1896
Lübben/Lausitz
–
19.6.1924
Hamburg
Lübben/Lausitz
–
19.6.1924
Hamburg
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Besenbinderhof 5 (Wohnadresse)
Museum für Kunst und Gewerbe, Steintorplatz 1 (künstlerischer Nachlass)
Lavinia Schulz kam nach dem Ende des ersten Weltkriegs als Mitglied von Lothar Schreyers expressionistischer ‚Kampfbühne‘ nach Hamburg. Mit ihren Lebens- und Bühnenpartner Walter Holdt entwickelte sie zwischen 1920 und 1924, dem Jahr ihres Freitods, eigene Bühnentänze mit selbst entworfenen Ganzkörpermasken. Der heute im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe befindliche künstlerische Nachlass zeugt von einer in ihrer Art einzigartigen Bühnenkunst.,
Lavinia Schulz, Tochter von Lillie und Georg Schulz, einem Bankmitarbeiter, wuchs bis zu ihrer Übersiedlung nach Berlin im Jahr 1912 als behütetes Einzelkind in Lübben auf. ihre schulischen Leistungen waren aufgrund einer längeren Krankheit nicht besonders gut, einzig in musischen Fächern zeigte sie große Begabung. Sie lernte Geige und Klavier, erhielt Zeichen- und Ballettunterricht. Mit 16 Jahren zog sie allein nach Berlin, um ein Kunststudium zu beginnen, was durch akademische Zeichnungen im Nachlass belegt ist.
1916 fand Lavinia Schulz Kontakt zu der von Herwarth Walden geleiteten avantgardistischen Galerie ‚Der Sturm‘. Sie wurde Schülerin der angeschlossenen Kunstschule Der Sturm‘ und Mitglied der expressionistischen ‚Sturmbühne‘ unter der Leitung von Rudolf Blümner und Lothar Schreyer. An der ‚Sturmbühne‘ wurde Lavinia Schulz zunächst einige Semester in der besonderen Rezitationsform des ‚Klangsprechens‘ geschult, bevor sie am 26. Oktober 1918 in der ersten und einzigen Aufführung der ‚Sturmbühne‘ in Berlin auf der Bühne stand. In dem Drama ‚Sancta Susanna‘ des 1915 gefallenen ‚Sturm‘-Dichters August Stramm spielte sie – teils nackt – die Titelrolle. Die Aufführung endete in Tumulten, was Lothar Schreyer bewog, im ruhigeren Hamburg die ‚Kampfbühne‘ zu gründen. Lavinia Schulz folgte ihm 1919. Als weitere Mitarbeiter wurden u. a. die Hamburger Hannah Grothendieck, Max Billert und Max Olderock gewonnen, Ende 1919 kam Walter Holdt hinzu, mit dem Lavinia Schulz bald auch privat liiert war.
Die ‚Kampfbühne‘ wurde zum Theater der Expressionisten in Hamburg Unter der Leitung von Schreyer entwickelte Lavinia Schulz Bühnenkostüme und Masken. Neben der Bühnenarbeit entwarf und nähte sie in der Werkstatt in ihrer Wohnung in der Lübecker Straße avantgardistische Mode und führte Aufträge für Bühnenkostüme aus.
Am 2. Oktober 1919 fand in der Hamburger Kunsthochschule die Uraufführung der Dramen ‚Die Haidebraut‘ und ‚Kräfte‘ von August Stramm statt, in denen Lavinia Schulz Hauptrollen spielte. Zu Weihnachten
1919 wurde ein mittelalterliches ‚Krippenspiel‘ in der St. Katharinenkirche aufgeführt, in dem Lavinia Schulz und ihr späterer Bühnen- und Lebenspartner Walter Holdt gemeinsam auftraten. Nach exzentrischen Ausfällen des Paares während der Probearbeit wurde es Anfang 1920 von der ‚Kampfbühne‘ ausgeschlossen. Es folgten der Umzug in eine Souterrainwohnung am Besenbinderhof 5 und die heimliche Heirat. Lavinia Schulz entwarf nun Kostüme und Ganzkörpermasken, zu denen das Paar eigene teils grotesk-lustige, teils dramatische Tänze entwickelte Ähnlich wie ihr Lehrer Lothar Schreyer, der die Spielanweisungen für die Bühnenstücke der ‚Kampfbühne‘ in partiturartigen ‚Spielgängen‘ notierte, entwickelte auch Lavinia Schulz ein eigenes Notationssystem für ihre Tänze. Akribisch zeichnete sie die Bewegungen und Rhythmen in so genannten Tanzschriften auf. Im Mai 1921 veröffentlichte sie Auszüge aus der Tanzschrift für den Tanz ‚Mann und Tote Frau‘ in Form einer Holzschnittmappe.
Zu Beginn des Jahres 1921 lernte das Paar bei einem Treffen des Künstlerstammtisches ‚Die Tafelrunde‘ den Komponisten und Pianisten Hans Heinz Stuckenschmidt kennen, der es fortan auf dem Klavier begleitete. Bis 1923, als Lavinia Schulz schwanger wurde, teilte das Paar mit Stuckenschmidt seine karge Wohnung, die tagsüber in einen Proben- und Arbeitsraum umgewandelt wurde. Im Dezember 1921 fand ein erster Solo-Abend im Museum für Kunst und Gewerbe statt. Zumeist bestritt Lavinia Schulz mit ihren Partnern Auftritte mit einzelnen Tanznummern im Rahmen von Veranstaltungen, etwa im Kabarettlokal ‚Die Jungfrau‘, auf den Künstlerfesten im Curio-Haus oder an den ‚Abenden der Tafelrunde‘. Gemeinsam mit Elsbeth Baack, für die Lavinia Schulz auch Bühnenkostüme entwarf, bestritten die Maskentänzer einen weiteren eigenen Tanz-Abend in den Hamburger Kammerspielen, die sich damals in direkter Nachbarschaft ihrer Wohnung am Besenbinderhof befanden.
Neben zeitkritischen Stücken, die sich gegen die Industrialisierung richteten, gehörten Adaptionen nordischer Heldensagen sowie ‚Sturm‘-Dichtungen zu ihrem Repertoire. Die avantgardistische Ästhetik der Masken wurde unterstrichen durch die moderne, atonale Musikbegleitung und ihre Bewegungen, die vollständig mit dem klassischen Bühnentanz brachen. Zur Herstellung der phantasievollen Masken verwendete Lavinia Schulz aus ideologischen Gründen ausschließlich Abfallprodukte wie Sackleinen und Kisten. Die so entstandene Schwere und Starrheit der Masken war erwünscht und sollte die in ihnen möglichen Bewegungen beeinflussen. Der Vorsatz, die Tänze nicht gegen Bezahlung aufzuführen, brachte Lavinia Schulz und ihre Familie an den Rand des Hungertodes.
Im Laufe des Jahres 1924 kam es zunehmend zu Spannungen zwischen der leidenschaftlichen Künstlerin und ihrem Partner Walter Holdt. Dieser zog sich aus dem Arbeitsprozess zurück. Lavinia Schulz sah ihr Lebenswerk gefährdet. Zeugen berichteten auch von Eifersuchtsdramen. Am 18. Juni 1924 erschoss Lavinia Schulz erst Walter Holdt im Schlaf und richtete dann die Waffe auf sich selbst. Sie starb am folgenden Tag im Krankenhaus St. Georg. Ihr damals einjähriger Sohn Hans Heinz blieb unversehrt und wuchs bei seinen Großeltern väterlicherseits in Hamburg und in Dänemark auf.
Der künstlerische Nachlass bestehend aus 29 – teils unvollendeten – Masken und Kostümen, zahlreichen Tanzschriften, Skizzen, Modeentwürfen und Briefen, war nach einer Gedächtnisausstellung im Jahr 1925 im Museum für Kunst und Gewerbe geblieben. Auf dem Dachboden des Museums eingelagert und vergessen, wurden die Werke erst nach über 60 Jahren zufällig wiederentdeckt. Auf diese Weise überstanden die Masken auch die Säuberungsaktion ‚entartete Kunst‘, der sich das Museum für Kunst und Gewerbe im ‚Dritten Reich‘ ausgesetzt sah.
Text: Athina Chadzis
Abgedruckt mit ihrer freundlichen Genehmigung, aus:
Athina Chadzis, in: Hamburgische Biografie. Hrsg. von Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke, Bd. 4, Hamburg 2008, S. 317-319.