Gerda Merten

    80 Jahre, Schuhfachverkäuferin, Verlagsangestellte, Aktivistin, Feministin, Mutter und vieles mehr…

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    15.2.1941
    Südlohn

    15.12.2021
    Hamburg
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    Ihre Mutter war Hausfrau, ihr Vater Knecht in einem Betrieb. Später hat er in der Chemieindustrie gearbeitet. Gerda hatte zwei Brüder.

    Ihre Eltern waren streng katholisch. Nach den durchlittenen Kriegserfahrungen zeigten Gerdas Brüder ein ängstliches Verhalten. Sie aber hatte keine Angst. Sie war ein ausgelassenes und wildes Kind. Mit ihrem Vater ging ist sie gerne spazieren; wenn auch selten. Er war eher ein stiller Mensch.
    Jenseits der häuslichen Enge fand sie Freiräume bei ihren Freundinnen. Sie trieb viel
    Sport, spielte Faustball, auch Turniere. Ihr Trainer erzählte ihr, was der Pfarrer am Sonntag von der Kanzel gepredigt hatte, damit sie am Wochenende heimlich spielen konnte.

    Als Kind wollte sie gern in einem Verlag arbeiten und Texte verfassen. Sie las gerne die Zeitung die ihre Eltern abonniert hatten. Besonders interessierten sie die Kurzgeschichten und politischen Artikel.
    Sie wäre gern auf die höhere Schule gegangen, auch ihr Lehrer befürwortete dies. Gerdas Eltern aber waren dagegen. Sie sollte nichts Intellektuelles machen und würde das als Frau bereuen. Sie sollte lieber Fleisch verkaufen.

    1955, mit 14 Jahren, begann sie ihre Ausbildung zur Schuhfachverkäuferin. Hier hat sie den Männern gern die feinen Schuhe angedreht. Dazu äußerte sie einmal: "Ich habe es ausgenutzt, wie dumm die Kerle waren, und habe ihnen insbesondere die prämierten Schuhe verkauft. Ich habe ihnen Dinge gesagt wie: ‚Das macht einen schlanken Fuß.'"

    Ich habe sie gefragt, welchen Traum sie damals hatte. Sie antwortete: "Ich wollte nie so enden wie meine Eltern."
    1959 arbeitete sie in Marl, der nächsten Stadt, in der Druckerei und war für die Druckvorlagen zuständig. 1963 zog sie nach Münster. Dort lernte hat sie Doris kennen. Gemeinsam zogen sie 1964 nach Stuttgart. Hier arbeitete Gerda als Verkäuferin bei der Firma Breuniger. Das war eine schöne Zeit. Sie wohnte in einer WG für die Verkäuferinnen, 5 Frauen waren sie. Gerda fuhr zum ersten Mal Ski, trieb mit ihren Freundinnen Leichtathletik. Es gab schicke Klamotten.

    1967 lernte sie beim Skifahren ihren zukünftigen Ehemann kennen. Ein Jahr später, 1968, heirateten sie. Im selben Jahr wurde Alexandra geboren.
    Die Zeit der Schwangerschaft empfand Gerda als schrecklich. Sie hatte immer auf ihre Figur geachtet. Aber das Kind, sagte sie, mochte sie gerne. Nach Alexandras Geburt arbeitete sie in Teilzeit, an Samstagen.

    Wie war Gerda als Mutter? Alexandra, Du hast ohne zu zögern gesagt: "Lieb." Du hast erzählt, dass Ihr viel spazieren wart. Das brauchte Gerda damals, um den Kopf freizukriegen. 1972 sind Alexandra und Gerda ausgezogen. 1974 kam es zur Scheidung. Nach der Scheidung musste Gerda wieder erwerbstätig werden. Sie arbeitete in Vollzeit als Chefsekretärin beim Klett-Verlag. Unter anderem, weil der Verlag einen betriebseigenen Kindergarten hatte. Alexandra war aber nicht glücklich dort.

    Welche Alternativen gab es? Die meisten Kindergärten waren konfessionell ausgerichtet. Wie viele erwerbstätige Frauen brauchte auch Gerda flexiblere Kindergarten-Öffnungszeiten. Gerda schloss sich einer Elterninitiative an. Gemeinsam besetzten die Eltern eine Villa und gründeten dort einen autonomen Kinderladen, Stuttgarts ersten Kinderladen "die Etzelstrasse". Später hat sich Gerda dafür eingesetzt, dass die Kinder in derselben Schule eingeschult wurden.

    In dieser Zeit sind Gerda und Alexandra oft umgezogen. Zeitweise wohnten sie in einer WG. Es war ein eher buntes Leben. Drogenexperimente oder ähnliches gab es nicht bei Gerda. Sie hat immer geschaut, dass es ihrer Tochter gut ging. Sie wollte eine Grundstabilität für ihre Familie, auch wenn sie dafür die eigenen Bedürfnisse hintangestellt hat.
    Auf der Suche nach Gleichgesinnten stieß sie auf das Frauenzentrum. Sie beteiligte sich dort in einer Frauengruppe, die sich für die Abschaffung des Paragraphen §218 einsetzte. Sie organisierte unter anderem Fahrten nach Holland, wo Abtreibung gesetzlich erlaubt war und begleitete Frauen zur Abtreibung dorthin.
    Im Frauenzentrum engagierten sich die Frauen auch in der Jugendarbeit und betreuten Mädchen, die "auf der Straße" lebten. Diese Arbeit war sehr wichtig für Gerda.

    Über die politische Arbeit in Stuttgart lernte sie Rainer kennen. Sie brachten gemeinsam und mit anderen eine linke Stadtteilzeitung heraus.

    1978 zogen Gerda, Rainer und Alexandra in den Norden; dies aus verschiedenen Gründen: einmal wegen der vorherrschenden politischen Stimmung, aber auch, weil Gerdas das Klima in Stuttgart gesundheitlich nicht gut tat.. Außerdem wollte sie eine passende Schule für Alexandra finden.
    Eigentlich wollten sie kommunal wohnen, aber im Norden war das nicht so einfach. Gelandet sind sie in Südbäke, einem kleinen Ort in der Nähe von Rastede bei Oldenburg. Dort renovierten sie ein altes Bauernhaus. Aber Gerda wusste bald, dass sie dort nicht wohnen wollte. So zogen sie nach Rastede.

    Es war die Zeit der Ostermärsche und der Castor-Transporte. Mitte der 1980er Jahre waren Gerda und Rainer an der Gründungsphase der Grünen beteiligt, sie haben den Ortsverband der Grünen mitbegründet. Bei den Grünen war Gerda in der Landesarbeitsgemeinschaft Frauen aktiv.

    In Oldenburg arbeitete sie in der Anzeigenabteilung und im Vertrieb des Oldenburger Wochenblatts. Mit den Jahren wurde sie, das hat sie stolz erzählt, stellvertretende Verlagschefin - und kündigte wohl auch die eine oder andere politische Veranstaltung im Blatt mit an.

    Als Alexandra in der 11. Klasse die Schule verließ, hat Gerda dies akzeptiert. "Du musst damit leben," sagte sie. Aber es war ihr wichtig, dass ihre Tochter eine Ausbildung machte. Auch wenn sie mit der Ausbildung zur Krankenschwester nicht so zufrieden war.
    Auch für Gerda begann in dieser Zeit ein neuer Lebensabschnitt: Sie zog in eine eigene Wohnung. Und sie trat der "SAFIA e.V. - Lesben gestalten ihr Alter" bei. Dort hat sie sich weiter frauenpolitisch engagiert, hat mit geplant und organisiert, vom Sommerfest bis zum Verbandstreffen.
    Als der Verlag nach Bremen zog, ging sie mit. Durch ihre Tätigkeit am SAFIA hatte sie immer ein Netzwerk, kannte überall Frauen und fand sich gut zurecht. 1997 erkrankte Gerda an Krebs, Unterleibskrebs. Sie überstand die Krankheit.

    2002 ging sie in Frührente und zog nach Hamburg in Alexandras Wohnung, die zu der Zeit in den USA war. Die Wohnung im vierten Stock mochte sie sehr. Sie blieb dort, bis vor wenigen Jahren. Hamburg mochte sie: Auch hier hatte sie Kontakt zu den Frauengruppen. Sie hatte zuhause immer viel Besuch.

    Mit zunehmendem Alter wurde ihre parteipolitische Arbeit weniger. Es blieben aber die sozialen Kontakte bei der SAFIA. Was mochte sie an dem Verein, an den Kontakten dort? Sie sagte, es gab etwas sehr Verbindendes, die Frauen hatten ähnliche Erfahrungen und Muster der Unterdrückung erlebt.

    In Hamburg ist sie jeden Tag nach Blankenese und zurückgelaufen. Sie mochte es, an der Elbe zu sein, die Menschen zu beobachten und sich einen Kaffee zu holen.

    In ihrer Freizeit las sie viel: Zeitung und Sachbücher, Frauenbiografien. Wenn sie sich wohlfühlte, spielte sie leidenschaftlich gern Doppelkopf, bis nachts um zwei Uhr.
    Gerda mochte das Reisen: mit Freundinnen war sie zum Wandern und Meditieren auf Mallorca und Korsika. Sie konnte aber auch gut für sich allein sein.

    2016 wurde sie am Herzen operiert. Von da wurde das Leben beschwerlicher. Es stellte sich eine zunehmende Grundunsicherheit ein: Gerda stürzte mehrfach.
    Sie zog nach Bahrenfeld, in eine seniorenfreundlichere Wohnung. 2020 erlitt sie einen Oberschenkelhalsbruch. Zuhause ging es nun nicht mehr. Im folgenden Sommer zog sie ins Pflegeheim. Es war ein schwerer Schritt für sie. Zuhause, da war noch etwas Autonomie gewesen. Im Heim hatte sie aber viel Besuch. Täglich war jemand bei ihr. Es gab einen festen Stamm an Freundinnen. In dieser Zeit ließ Gerdas Lebenslust nach.
    In ihren letzten Tagen fiel dann der Fokus auf all die Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten im Alltag weg, und es kehrte mehr Ruhe in den Alltag ein.

    Wenn wir uns Gerda vorstellen, dann als jemanden, die selbst gesagt hat: "Ich kann das nicht, ohne aktiv zu sein." Die ihre Kraft bei sich gefunden hat: Der Ruhepol war sie selbst. Sie war sich selbst genug.
    Sie war eine Frau mit Haltung, die selbst in ihren politisch aktivsten Zeiten gut angezogen war. Sie äußerte: "Dennoch war ich immer seriös gekleidet, in einer Bluse." Schuhe waren ihr wichtig. Sie hatte nicht viele, aber gute Schuhe.
    Sie war seit ihrer Kindheit an Politik interessiert. Die parteipolitische Arbeit war ihr teilweise nicht radikal genug. "Ich wollte an die Wurzel. Das ging im Frauenzentrum, wenn die Frauen mit Erleichterung aus Holland zurückgekehrt sind. Die Wurzel war im Frauenzentrum."
    Sie war eine resolute Streiterin, konnte eine andere Meinung annehmen, ließ diese aber dann stehen. Sie war sehr final mit allen Konsequenzen.

    Ihre Kontaktpflege lief über die Frauengruppen. In der Vereinsarbeit sorgte sie für viel Struktur, war rege in der Diskussion und sehr präsent.
    Meldete sie sich nicht bei ihren Freundinnen, dann wusste man, dass es ihr gut geht.
    Wenn sie zuletzt nicht so gern Besuch empfangen wollte, dann auch deshalb, weil sie nicht hilfsbedürftig erscheinen wollte.
    Sie war eine starke Person. Sie konnte aber auch emotional sein.
    Zu den besonderen Momenten in ihrem Leben gehörten ihre Wanderungen an der Elbe. Sie sagte: "Da waren wir stundenlang unterwegs. Da hatte ich Glücksgefühle."
    Sie stellte sich in den letzten Jahren immer wieder auf neue Einschränkungen ein. Haderte sie mit sich, dann äußerte sie dies nicht immer.
    Es hat sie zuletzt entlastet, zu wissen, dass ihre Tochter nicht allein ist.
    Sie hatte keine Angst vor dem Tod.
    Sie war stolz auf ihre Tochter.
    Auf das, was sie im Leben geschafft hat.
    Auszug aus der Trauerrede von Louise Brown,
    Trauerrednerin aus Hamburg

    Meine Mutter hat selbstbestimmt ihr bewegtes Leben, in Ruhe und Konzentration, mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, in meiner Begleitung, am 15.12.2021, beendet.
    Gerda, ruhe in Frieden du starke, tolle und stolze Frau!