Maria Sturmhoebel

    90 Jahre, Hausgehilfin, Kindergärtnerin, Lehrerin, Tochter von Margarethe Münch

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    11.8.1924

    11.9.2014
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    Maria wurde als erstes und einziges Kind ihrer Eltern am 11. August 1924 in Hamburg geboren. Marias Mutter Grete Münch war beruflich stark engagiert. Für sie steht ein Erinnerungsstein im Garten der Frauen. Ihr Vater Walter Münch war Buchhandlungsgehilfe.
    Am 13. Januar 1930 stirbt Grete Münch an einem Hirntumor. Friedel Buchner, eine Freundin und Mitarbeiterin, nimmt entsprechend dem Wunsch Grete Münchs die 5 ½ Jahre alte Maria als Pflegekind zu sich.
    Am 1. Juni 1940 beginnt Maria eine Lehre als Hausgehilfin und besteht im Februar 1942 die Prüfung. Nun geht Maria nach Tübingen und absolviert dort den Lehrgang für Kindergärtnerinnen von April 1942 bis März 1944 am Seminar für soziale und sozialpädagogische Berufe. Schulleiterin ist Friedel Buchner. In den letzten Kriegstagen wird Maria Mitglied des Volkssturms in Tübingen. Zusammen mit anderen Schülerinnen und unter der Leitung von Friedel Buchner bilden sie eine Kochgruppe und ziehen mit dem Volkssturm den französischen Truppen entgegen über die Schwäbische Alp. Einem Zusammenstoß mit französischen Truppen entgehen die Schülerinnen knapp durch den Eintritt als Hilfsschwestern in ein Reservelazarett im schwäbischen Gammertingen.
    Als Kindergärtnerin ohne Abitur legt Maria eine Aufnahmeprüfung für die Pädagogische Hochschule Braunschweig ab. Sie überzeugt mit ihrem Geigenspiel für das Fach Musik. Von Januar 1947 bis Oktober 1949 studiert sie für das Lehramt an Volksschulen. Aber zuvor muss sie, um das Studium beginnen zu dürfen, mit anderen Studienanwärterinnen und Anwärtern zusammen im Braunschweiger Kino Filme ansehen, die die Alliierten bei der Befreiung von Konzentrationslagern gedreht haben. Sie erzählt uns später, dass sie unendlich schockiert war und ihr dadurch aber auch die Augen geöffnet wurden über die Taten des NS-Regimes.
    Maria wird im April 1950 an ihre erste Lehrerinnen-Stelle an eine Volksschule in Gittelde/Kreis Gandersheim im Harz berufen. Sie bewirbt sich 1952 nach Hamburg und tritt eine Stelle als Grundschullehrerin an der Schule Osterbrook an.
    Schon bald nach dem Umzug nach Hamburg lernt Maria ihren späteren Mann Gerhard Sturmhoebel kennen und lieben. Sieben Wochen später, am 28. Februar 1953, heiraten sie. Am 26 Mai 1954 werden die Zwillinge Wolfgang und Helmuth geboren. Maria kündigt ihre Stelle als Lehrerin, ist fortan Hausfrau und Mutter. Am 11. August 1956, also an ihrem 32. Geburtstag, wird der Sohn Elimar geboren. Am 21. Oktober 1958 dann Friederike und Margarethe. Margarethe stirbt noch im Kreißsaal.
    1971, 17 Jahre nach ihrem Austritt aus dem Schuldienst, herrscht in Hamburg großer Lehrkräftemangel. Maria folgt einem allgemeinen Aufruf, wieder in den Schuldienst zurückzukehren, und tritt im Juni als angestellte Lehrerin wieder in den Schuldienst ein, arbeitet als Grundschullehrerin an der Schule Friedrich-Frank-Bogen, einem sozialen Brennpunkt. Berufsbegleitend belegt sie Kurse mit dem Ziel, die zweite Lehrerprüfung für das Lehramt an Volks- und Realschulen abzulegen. Hier kommt sie mit Begeisterung mit Reformpädagogik und dem klientenzentrierten Ansatz von Carl Rogers in Berührung. Am 12. September 1974 besteht sie mit 50 Jahren die zweite Lehramtsprüfung.
    In den 1970er Jahren ziehen die Kinder nach und nach aus und gründen Familien oder WG's. Es werden die Enkel Hanno, Friedel, Paula, Leona und Seline geboren. Maria betreut gerne die Enkel, wenn es notwendig ist und sie um Hilfe gebeten wird.
    Am 1.9.1984 tritt Maria in den Ruhestand bzw. in den Unruhestand. Sie kauft sich einen Computer - niemand aus der Familie hatte zu diesem Zeitpunkt schon einen PC - und beginnt ihre Vorfahren zu erforschen, insbesondere die sonst bei Genealogen so oft vernachlässigten weiblichen Linien. Sie nennt das Projekt "Vormütter". Es entsteht eine Chronik, die zurück bis ins 15. Jahrhundert reicht. Dafür geht sie hunderte von Stunden in die Archive, sucht in verfilmten alten Kirchenbüchern nach Vorfahren und findet erstaunliche Dinge heraus.
    Maria besucht Kurse bei der Volkshochschule zum Kreativen Schreiben und gründet dann mit Mitstreiterinnen eine eigene Gruppe, die UHUS, die unter Hundertjährigen. Sie treffen sich alle zwei Wochen in der LOLA, dem Stadtteilkulturzentrum in Bergedorf. Maria entwickelt sich für 17 Jahre zur Seele der Uhu-Gruppe. Zuletzt ist es jedes Mal ein Angang, mit dem Rollator bis zur LOLA und dann die wenigen Stufen hinaufzukommen. Es entstehen kleine kostbare Gedichte und Geschichten, 1992 das folgende Gedicht

    Die Jugend drängt:
    Nun geh doch, Tag!
    Mach Platz dem Neuen, eile!

    Das Alter sinnt:
    Was kommen mag,
    verweile, Tag, verweile.
    Am 27. August 2005 stirbt ihr Mann Gerhard. In den nachfolgenden Jahren kostet es Maria viel Kraft, sich der Realität des Verlustes anzunähern und der Unausweichlichkeit des eigenen Todes entgegen zu sehen. Sie schreibt am 11.12.2007: "Die letzte Strecke des Lebensweges ist erreicht. Wird mit jedem Tag überschaubarer."
    Im Dezember 2009 zieht Maria in eine kleinere barrierefreie Wohnung. Der Pflegedienst kommt morgens und abends. Maria genießt ihr unabhängiges Leben, isst wann sie möchte, hält zwischendurch Schläfchen und lebt bewusst diesen letzten Lebensabschnitt.
    Maria sortiert ihre persönlichen Schriftstücke, weist ihre Kinder auf ihr wichtige Gedichte hin, und plant, was sie nochmal lesen, nochmal recherchieren möchte und äußert Wünsche für Ausflüge und Unternehmungen. Gleichzeitig nehmen die körperlichen Kräfte und die Beweglichkeit ab. Das Spannungsfeld zwischen dem, was geht und dem was nicht mehr oder jetzt gerade nicht geht, wird größer.
    Am 28. Februar, ihrem Hochzeitstag, wenige Minuten bevor die vier Kinder eintreffen, um diesen Tag mit ihr zu feiern, stürzt Maria zum 5. Mal in ihrer Wohnung und bricht sich diesmal den Oberschenkelhals. Sie hat große Angst vor der OP und selbst als sie überstanden ist, ist sich Maria nicht sicher, ob sie wieder ausreichend Kraft finden wird, um weiter zu leben. Eines Morgens im Krankenhaus rezitiert sie das Gedicht von Mathias Claudius. Das gibt ihr Kraft und sie kann zusammen mit Friederike weinen.

    Der Tod und das Mädchen
    Das Mädchen:
    Vorüber! Ach, vorüber!
    Geh wilder Knochenmann!
    Ich bin noch jung, geh Lieber!
    Und rühre mich nicht an.
    Der Tod:
    Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
    Bin Freund, und komme nicht, zu strafen.
    Sei guten Muts! Ich bin nicht wild,
    Sollst sanft in meinen Armen schlafen!

    Nach überstandener OP fällt der Entschluss, ins Pflegeheim zu ziehen, da nun auch nachts eine Betreuung benötigt wird, die der Pflegedienst nicht leisten kann. Die Zeit dort ist geprägt von heftigen Auf und Abs. Mit einer enormen Energie ringt Maria darum, körperlich wieder so fit zu werden, dass sie ein größtmögliches Maß an Selbständigkeit wiedererlangt. Es gelingt ihr mit Hilfe des Krankengymnasten aus dem Rollstuhl heraus zu kommen und wieder am Rollator zu gehen.
    Auch das Zurechtfinden im sozialen Gefüge der Heimbewohnerinnen und -bewohner sowie im Umgang mit den Pflegekräften kostet sie viel Kraft. Aber auch hier geht sie mit hohem Engagement zur Sache, obwohl sie einige Rückschläge ertragen muss.
    Maria wünscht sich, im Garten der Frauen begraben zu werden und kauft sich im Juni dort eine Grabstelle.
    Im Juli erklärt sie, nun gut angekommen zu sein in ihrer letzten Bleibe. Am 11. August feiert Maria im Kreise der Familie ihren 90. Geburtstag.
    Am 24. August lässt das Pflegeheim sie ins Krankenhaus bringen. Maria bekommt täglich mehrfach Besuch von den Kindern und Enkeln. Ihr Sterben wird von Kindern und Enkeln begleitet.
    Helmuth Sturmhoebel