Frauen aus Kunst & Kultur

Jede Frau erzählt ihre eigene Geschichte – entdecken Sie ihr Vermächtnis.

Historische Grabsteine: Kunst & Kultur

    Anni Ahlers

    Operettensängerin

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    21.12.1902
    Hamburg

    14.3.1933
    Hamburg
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    Anni Ahlers war Ende der 1920er-Jahre des 20. Jahrhunderts neben der Ungarin Gitta Alpar die gefeierte Operettendiva Berlins. Sie wurde in Hamburg geboren und wohnte mit ihrer Mutter Auguste, geb. Leeberg, ihrer zwei Jahre älteren Schwester Mia und ihrem Stiefvater, dem Maurermeister Cäsar Buschitzky, in der Annenstraße in St. Pauli. Ihr leiblicher Vater war Zirkusstallmeister. Dieser hatte seine Tochter im Alter von vier Jahren mit dem Bühnenmilieu vertraut gemacht. 1920 wurde Anni Ahlers als Tänzerin an die Hamburger Volksoper auf der Reeperbahn engagiert, an der sie bis zum Sommer 1924 blieb. Damit begann ihr Aufstieg von der Tänzerin zur Chor- und schließlich zur Solosängerin. Im Juni 1923 bekam Anni Ahlers ihre erste Solo-Rolle. Sie spielte die Rote Liesy in der Operette "Der fidele Bauer" von Leo Fall. Zu Beginn der neuen Spielzeit, im September 1924, ging Anni Ahlers nach Itzehoe, wo sie bis April 1925 als Sängerin und Tänzerin am Stadttheater engagiert war. Als die Spielzeit im Herbst wieder begann, wechselte sie ans Stadttheater nach Dortmund. Hier blieb sie wiederum nur für eine Spielzeit und ging dann im August 1926 nach Breslau. Dort hatte sie ihren ersten größeren Erfolg in der Operette "Lady Hamilton" von Eduard Künneke. Die folgenden zwei Jahre blieb Anni Ahlers in Breslau.1929 kam sie nach Berlin, wo sie schnell zu einem der Stars der Operetten- und Revuebühnen avancierte. Ihre erste größere Rolle war die der Barbarina in der Operette "Casanova" von Ralph Benatzky, eine reine Tanzrolle. Doch bereits im Jahr darauf erhielt sie ihre erste große Tanz- und Gesangsrolle, verkörperte die Victoria in "Victoria und ihr Husar" von Paul Abraham. Diese Operette schlug bei den Leipziger Operettenfestspielen im Juli 1930 sensationell ein und wurde danach mit viel Erfolg im Berliner Metropoltheater gespielt. Jetzt meldete sich auch der Film. Im Jahre 1931 spielte Anni Ahlers in vier Streifen, ("Marquise von Pompadour", "Der wahre Jacob", "Faschingsfee" und "Liebesfiliale"). 1932 wirkte sie in dem musikalischen Lustspiel "Die verliebte Firma" mit. Im selben Jahr verließ Anni Ahlers Deutschland und ging ans His Majesty's Theatre in London, wo sie in der Rolle der Dubarry in der gleichnamigen Operette von Carl Milröcker Triumphe feierte. Diese Rolle wurde ihr möglicherweise zum Verhängnis. So jedenfalls sahen es manche Freunde und Kollegen, als Anni Ahlers infolge eines Sturzes aus dem Fenster starb. Sie meinten, Anni Ahlers habe, mondsüchtig veranlagt und überarbeitet, Rolle und Realität verwechselt. Als Madame Dubarry hatte sie durch ein Fenster über einen Balkon der Dekoration kriechen müssen. Die Kommission, die in England ungeklärte Todesfälle untersuchte, kam zu dem Ergebnis, es habe sich um einen Suizid gehandelt. Die Einäscherung von Annie Ahlers fand in London unter großer Beteiligung der Theaterwelt und im Beisein ihrer Mutter und Schwester statt, die die Urne nach Hamburg überführten.

    Valerie Alport

    geb. Mankiewicz

    Kunstsammlerin und Mäzenin

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    23.5.1874
    Posen

    11.12.1960
    Marseille
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    Valerie Aports Grabstein ist das Entrée zum Garten der Frauen. Von der Cordesallee kommend und dem Wegweiser zum, "Garten der Frauen" folgend, der an dem Fußweg steht, der direkt zum Garten der Frauen führt, befindet sich auf der linken Seite des Weges der Grabstein von Valerie Alport. Valerie Alport, verheiratet mit Leo Alport, Aufsichtsratsvorsitzender der Firma Beiersdorf, hatte von ihrem Bruder Anteile der Firma geerbt. Das Ehepaar hatte zwei Kinder. Vor dem Ersten Weltkrieg in Paris Kunstgeschichte studiert und mit der Sammlung von Kunstwerken begonnen,veranstaltete sie mit ihrem Mann in ihrer Hamburger Villa in der Agnesstraße 1 Konzerte und Treffen kunst- und kulturinteressierter Menschen. Mit der jüdischen Malerin Anita Rée (ihre Urne befindet sich auf dem Althamburgischen Gedächtnisfriedhof des Ohlsdorfer Friedhofes) freundschaftlich verbunden, kaufte Valerie Alport ihr viele Bilder ab und schützte sie so vor Armut. Auch begleitete sie sie auf einer von ihr finanzierten Italienreise. Nach Anita Rée`s Freitod im Jahre 1933 erbte Valerie Alport Bilder der Künstlerin. 1936 schenkte sie einen Teil der Bilder dem jüdischen Museum in Berlin und emigrierte 1937 mit Rèe-Bildern zu ihrem Sohn nach Oxford. Nach dessen Tod kamen einige Rée-Bilder nach Hamburg zurück.

    Ilona Bodden

    Lyrikerin, Kinderbuchautorin und Übersetzerin

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    8.2.1927
    Hildesheim

    16.4.1985
    Hamburg
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    „Ich schrieb, wie man läuft, wie man springt. Ich war als Kind viel allein. Wir lebten in einer Gegend, in der es keine kleineren Kinder gab. Beim Schreiben erfand ich meine eigene Welt. Ich schrieb Geschichten, ohne ein bestimmtes Ende.“ Wer Geschichten „ohne ein bestimmtes Ende“ schreibt, hat kein geschlossenes, harmonisches Weltbild wie die Autoren und Autorinnen von Kitschromanen, deren Werke stets mit einem Happy-End vor dem Traualtar enden. Und doch muss es nicht so düster sein wie das Ilona Boddens. Schon ihre Kindheit muss Illusionen über die Welt erst gar keinen Platz eingeräumt haben. Sie verlief offenbar nicht nur einsam und belastet mit der Pflege ihres kränkelnden Vaters, eines Hildesheimer Buchhändlers. Wenn Ilona Bodden später äußert, dass sie ihre Kinderbücher – etwa 20 – schreiben musste, weil sie nur so die entsetzlichen Verwundungen der eigenen Kindheit überwinden könne, ist zu vermuten, dass diese Kindheit noch ganz andere Zumutungen für sie bereithielt. Doch auch später scheint sich Ilona Boddens Verhältnis zur Welt nicht wesentlich geändert zu haben. Ihre Lyrik ist oft düster und trotz der Veröffentlichung ihrer Gedichte in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften, in Anthologien und selbstständigen Lyrikbänden, trotz der Übersetzungen ins Italienische und Ungarische und der Verleihung mehrerer Lyrik-Preise in Italien zog Ilona Bodden, die auch als Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Italienischen gearbeitet hat, die erschütternde Bilanz: „Zu früh Viel zu früh – Doch die gestundete Frist ist um. Es gilt die Rechnung zu begleichen. Aufrichtige Freunde: keine. Wenig Freude. Essen und Trinken: karg. (Die letzten zwei Flaschen Wein waren geschenkte) Die meisten Ausgaben für nutzlose Medikamente verschwendet. (Gegen Taubheit gibt es kein Heilmittel) Summa summarum: Die Kosten sind ausgeglichen – Ich bleibe der Welt schuldig, was sie mir schuldig geblieben ist.“ Ilona Bodden nahm sich am 16. 4. 1985, wenige Tage nach ihrem Mann, dem Journalisten Günter Löbering, in ihrer Wohnung in der Hoheluftchaussee im Alter von 58 Jahren das Leben. Geblieben sind ihre Bücher: „Pappeln schwarze Federn aus Nacht. Gedichte“ (1960); „Erinnerung an einen Obelisken“ (1974); „Der gläserne Vogel. Gedichte gegen die Zeit“ (1980); „Schattenzonen. Gedichte außerhalb der Zeit“ (1981); „Die Gehäuse der Zeit. Neue Gedichte“ (1983). Text: Brita Reimers Quellen: Ilona Bodden: Steinerne Gärten. Mit einem Vorwort von Ingeborg Drewitz. Karlsruhe 1987.      

    Julie de Boor

    Portraitmalerin

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    21.7.1848
    Hamburg

    4.6.1932
    Hamburg
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    Julie de Boor stammte aus einer angesehenen jüdischen Arztfamilie. Ihr Vater war der Arzt und Chirurg Dr. Moritz Unna, der Bruder der Dermatologe Dr. Paul Gerson Unna, nach dem der Unna-Park benannt ist. Sie besuchte Privatkurse bei Eleonore Göttsche und erhielt Zeichen- und Malunterricht bei Bernhard Mohrhagen und Herrmann Steinfurth. Es wird sich bei all dem vermutlich um die damals übliche Ausbildung für höhere Töchter gehandelt haben. 1873 heiratete sie den aus einem uralten holländischen Adelsgeschlecht stammenden Juristen und Bankier Adrian Ploos van Amstel und folgte ihm nach Heidelberg. Doch noch bevor die gemeinsame Tochter Paula am 20. November 1874 geboren war, erschoss sich Adrian Ploos van Amstel, vermutlich wegen finanzieller Schwierigkeiten. Julie de Boor ging zunächst nach Berlin, um sich bei dem Genre- und Bildnismaler Karl Gussow ausbilden zu lassen, und später nach Paris zu dem gesuchten Portraitmaler Emile Auguste Carolus-Duran. Doch eigentlich verstand sie sich als Schülerin des spanischen Malers Diego Velásquez (1599-1660), der auch ihren Lehrer Carolus-Duran stark beeindruckt hatte. 1880 kehrte Julie de Boor nach Hamburg zurück. Mit ihrer Tochter Paula lebte sie im Hause ihres Vaters und arbeitete in Ateliergemeinschaft mit dem Schlachtenmaler Claus Herrmann de Boor in der Rothenbaumchaussee 197. 1889 heiratete das Paar und zog in das nach seinen eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen gebaute einstöckige Haus mit Atelier im Dach in die Moorweidenstraße 19 (heute steht dort das Elysée-Hotel). Paula wurde in die Obhut einer französischen Pastorenfamilie in Mailand gegeben. Das gemeinsame Leben des Künstlerehepaares war nur von kurzer Dauer. Am 30. November 1889 starb Claus Herrmann de Boor. Unterstützt durch ihre gesellschaftlichen Beziehungen, die ihr Haus zum Sammelpunkt künstlerisch interessierter Menschen machten, insbesondere aber durch ihren Mentor, den Bürgermeister Carl Petersen, war Julie de Boor schnell zu einer beliebten Portraitmalerin mit zahlreichen Aufträgen geworden. Ca. 500 Portraits und Kniestücke in Öl auf Holz oder Leinwand und in Kreide entstanden bis zu ihrem Tod, darunter auch ein Gruppenbild der sieben Rathausbaumeister, das Julie de Boor dem Rathaus zur Eröffnung 1897 stiftete und das im "Rosenkranz" im Ratsweinkeller hängt. Trotz aller Anerkennung und Wertschätzung starb Julie de Boor als verbitterte Frau. Sie konnte oder wollte wohl nicht begreifen, dass ihre Kunst, die akademische Portraitmalerei, bereits zu ihren Lebzeiten einer vergangenen Epoche angehörte.

    Hannelore Borchers

    verh. Ausborn

    Malerin

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    20.11.1932
    Warte

    18.12.1990
    Hamburg
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    "Die Hamburger Malerin Hannelore Borchers hat fast ihr ganzes Leben lag im Stillen gearbeitet und sich dabei dem herrschenden Kunstbetrieb verweigert, weshalb ihr Schaffen zu Unrecht in Vergessenheit geriet," 1) schreibt der Kunsthistoriker Hanns Theodor Flemming. Sie begann ihre künstlerische und Kunsterzieherinnen-Ausbildung im Alter von 20 Jahren und besuchte bis 1958 die Hochschule für bildende Künste (HfbK) in Hamburg, wo sie bei den Malern Kurt Kranz und Willem Grimm lernte. Im Alter von 26 Jahren wurde sie Kunstpädagogin am Gymnasium für Mädchen in Hamburg Gross-Flottbek (heute: Gymnasium Hochrad). 1966 wechselte sie an das Emilie-Wüstenfeld- Gymnasium und war dort bis 1988 tätig. 2) Zwischen 1955 und 1961 führte sie eine Lebensgemeinschaft mit dem gleichaltrigen Maler Volker Meier, der ebenfalls an der HfbK bei Willem Grimm studiert hatte. Ihr freies Schaffen begann Hannelore Borchers "mit dunkeltonigen Strandbildern, Küstenlandschaften und Stillleben in denen noch spätexpressionische Stilelemente eines Willem Grimm auf veränderter Ebene fortleben. Ihre düster getönten Darstellungen von Fischernetzen, Buhnen, Metallgerüsten, Mauern und Häuserwänden sind von einer schwermütigen Stimmung erfüllt (…)." 1) Ihre zahlreichen Reisen nach Skandinavien, London und Irland inspirierten sie zu weiteren Bildern mit Motiven von Meeres- und Küstenpanoramen "aus Dänemark mit Sturmwolken und weiten Horizonten, die in nuancenreichen Farbvaleurs die spezifische Atmosphäre der skandinavischen Landschaft veranschaulichen. Das gilt nicht minder für die Bilder aus der Folgezeit, die durch Eindrücke von zahlreichen Reisen in den Norden, nach London und vor allem nach Irland geprägt wurden. Irische Moore und Kliffs sind in regnerisch verschwommenen Blaugraugrüntönen einer äußerst differenzierten Palette geschildert, in der die eigegenartige Stimmung des Insellandes zu autonomem malerischem Ausdruck gelangt." 1) Von 1963 bis 1988 war Hannelore Borchers mit dem ein Jahr älteren Maler Gerhard Ausborn verheiratet, der ebenfalls zur selben Zeit wie sie an der HfbK bei Willem Grimm studiert hatte. Im Jahr ihrer Heirat wurde das Ehepaar Gründungsmitglied der "Neuen Gruppe Hamburg", ein Zusammenschluss von ca. 22 jüngeren Künstlerinnen und Künstlern, der auf keine bestimmte Kunstrichtung festgelegt war. In den 1970er Jahren wandte sich Hannelore Borchers "durch Eindrücke aus Prag, Venedig und Ephesus mehr und mehr [dem] Architektonischen und Figürlichen" 1) zu. "Die tänzerisch bewegten Barockfiguren auf der Prager Karlsbrücke, die antiken Statuen, Torsen und Ruinen der ionischen Tempel und Arkaden von Ephesus, besonders aber die venezianischen Figurinen der Commedia dell'Arte vor der sparsam angedeuteten Kulisse der Lagunenstadt, bilden nun die Themenkreise für anspielungsreiche Kompositionen in Öl oder Gouache, in denen das jeweilige Motiv oft symbolische Bedeutung gewinnt. Das gilt vor allem für die von surrealer Magie erfüllten Palazzi-Interieurs aus Venedig (…) Marmorsäulen und geometrisch gemusterte Marmorfußböden, zwischen denen sich bizarr maskierte Gestalten und seltsam verkleidete Paare des Carnevale di Venezia bühnenhaft bewegen, (…). In diesen Gemälden erreichte Hannelore Borchers einen Gipfel ihres eigenständigen Schaffens." 1) Hannelore Borchers war auch eine hervorragende Zeichnerin. Sie schuf Bleistift- und Federzeichnungen sowie Schwarzweißradierungen. "Am Ende ihres Lebens wandte sich die Malerin schließlich noch dem bildnerischen Verfahren der Collage zu, deren Teile sie aus Ausschnitten illustrierter Zeitschriften symbolhaltig zusammenfügte, wobei aus Formen Bedeutungen entstanden und umgekehrt. Bildtitel wie ‚Adriatisches Unwetter', (…) ‚Götterdämmerung', ‚Gipfelstürmerei', (…) deuten auf derartige formal-motivische Wechselbeziehungen." 1) Quelle: 1) Hanns Theodor Flemming: Hannelore Borchers 1932-1990. Eine Retrospektive, 28.10. bis 13.12.1991. Galerie Christian Zwang Hamburg. Katalog 6. 2) freundliche Auskunft von Renate Vidal, ehemalige Schülerin von Hannelore Borchers.

    Hedwig Brandt

    geb. Stosch-Sarrasani

    Die rechte Hand ihres Vaters, Direktor des Zirkus Sarrasani

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    1.3.1896
    Berlin

    28.2.1957
    Hamburg
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    Hedwig Stosch-Sarrasani war die Vertraute ihres Vaters Hans Stosch (1873-1934). Nach der Schule - anfangs besuchte sie ein Pensionat in Dresden, später ein Internat in der Schweiz - wurde Hedwig ab ihrem 14. Lebensjahr in die Arbeit des Zirkus mit einbezogen: als Kunstreiterin, Kassiererin und auch als ein Mitglied des "Putztrupps", der nach den Vorstellungen aufräumen und saubermachen musste. Doch das Verhältnis von Vater und Tochter trübte sich, als Hedwig auf einer gemeinsamen Reise mit ihrem Vater nach Hamburg, ihren zukünftigen Ehemann kennenlernte. Hans Stosch war mit seiner Tochter auf der Werft Blohm + Voss, um Verhandlungen über einen Schiffstransport seines Zirkus nach Südamerika zu führen. Für diese Gespräche wurde ihnen "der beste Mann der Werft", der Leiter der Reparaturabteilung, vorgestellt. 1920 heiratete die 24-Jährige gegen den Willen ihres Vaters, der bereits während des Ersten Weltkrieges "einen Mann vom Fach" für sie ausgesucht hatte. Hedwig zog nach Hamburg und bekam ein Jahr nach der Hochzeit ihr erstes Kind, ein Mädchen, dem 13 Monate später ein Junge folgte. Diese Geburtenabstände glichen denen von Hedwig und ihrem Bruder und führten deshalb bei den Zirkusleuten zu abergläubischen Vermutungen; die Folge: Vater und Tochter versöhnten sich und fortan reiste Hedwig Brandt immer mal wieder für einige Monate zu ihrem Vater, um ihm bei der Zirkusarbeit zu helfen. Musste der Vater auf Reisen, war die Tochter die Generalbevollmächtigte des Zirkus. Zwischen 1920 und 1925 bekam Hedwig Brandt zwei weitere Kinder. Ein Dienstmädchen half im Haushalt, und während Hedwig Brandts Abwesenheit wurden die Kinder von der Schwägerin betreut. Nach dem Tod ihres Mannes stürzte Hedwig Brandt in eine schwere wirtschaftliche Krise: Blohm & Voss zahlte ihr nicht die (Witwen) Betriebsrente. Dies belastete sie sehr und machte sie krank. Trotzdem war sie voller Begeisterung dabei, als 1955 Fritz Mey, ein ehemaliger Mitarbeiter des 1945 in Dresden ausgebombten Zirkus Sarrasani, mit Spendengeldern versuchte, das Unternehmen wieder aufzubauen. Sofort gab sie ihr Einverständnis für den Zirkusnamen "Sarrasani" und reiste 1956 zu dessen Eröffnungsvorstellung nach Mannheim. Ein Jahr später verstarb sie.

    Anny Breer

    Porträtfotografin

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    27.10.1891
    Hamburg

    21.7.1969
    Hamburg
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    Anny Breer wurde unter den Namen Agnes Else Breer am 27.Oktober 1891 als Tochter des 1. Schiffsvermessungsinspekteurs Theodor Wilhelm Breer und seiner zweiten Frau Agathe geboren, die er 1891 geheiratet hatte. Breers erste Frau und Mutter ihrer gemeinsamen fünf Kinder war etwa zwei Jahre zuvor verstorben. Anny Breer schreibt über die Folgen dieser Ehe für ihre Mutter "Mit der Heirat begann dann ihr langes, qualvolles und einsame Leben…" Über ihr Verhältnis zu Vater und Stiefgeschwister schreibt sie: "Als ich in der zweiten Ehe meines Vaters in Hamburg geboren wurde, stand meine Geburt schon unter so ungünstigen Aspekten, die mein ganzes weiteres Leben gekennzeichnet haben…" Damit meinte sie u. a. die totale Ablehnung ihrer Mutter durch die Kinder aus erster Ehe, damals zwischen 14 und 9 Jahre älter als Anny Breer, und die notorische eheliche Untreue des Ehemanns. Auch sie hat unter den Launen und der Ablehnung ihres Vaters und den Kindern aus erster Ehe stark zu leiden. 1912 trifft Anny Breer auf ihre erste Liebe, einen 22 jährigen Pianisten, der ihr Klavierunterricht gibt. Er ist der Gegenentwurf zu ihrem Vater. Kein Wunder, dass sie sich schwärmerisch in ihn verliebt. Gegen den Willen des Vaters verloben sich die beiden im Februar 1915, mitten im Ersten Weltkrieg. Am selben Tag erleidet Theodor Breer einen Schlaganfall und stirbt wenige Tage später. Anny Breer fühlt sich "vom Tyrann befreit", doch der nächste Schicksalsschlag lässt nicht lange auf sich warten. Ihr Verlobter, Carl Rettbach, wird eingezogen und fällt am 26. November 1915 an der Ostfront. Breers Vater war bei seinem Tod so hoch verschuldet, dass zur Abfindung der Gläubiger die Villa in der Fruchtallee 38 verkauft werden muss. Um finanziell über die Runden zu kommen, muss Anny Breer Arbeit annehmen und findet eine Stelle in der Militärverwaltung in Altona. Dort tritt ein neuer Mann in ihr Leben. Er ist deutlich älter, ein jüdischer Reserveoffizier und im Zivilberuf Jurist. Später wird er von den Nazis deportiert und ermordet. Er sieht in ihr einen "Augenmenschen" und rät ihr zur Fotografie als Beruf. Über die Witwe von Ernst Juhl, einer Bekannten ihres Verlobten, lernt sie Minya Dührkoop kennen. Ernst Juhl war der Mitstreiter des Hamburger Kunsthallen-Direktors Alfred Lichtwark. Beide waren bemüht, die gewerbliche Fotografie ästhetisch zu reformieren. Als Fotosammler war Juhl mit vielen damals weltbekannten FotografInnen bekannt. Minya Dührkoop gehört mit ihrem Vater Rudolf zu diesem Kreis. Zu ihrem Kundenstamm gehören Kaiser und Präsidenten, hohe Militärs und berühmte bildende Künstler, Musiker und Schauspieler. Mit dem Atelier Bieber aus Hamburg und wenigen anderen im Deutschen Reich wetteifern sie um das Prädikat "bekanntestes Atelier Deutschlands." Anny Breer beginnt im Hamburger Atelier Dührkoop als unbezahlte Volontärin und bekommt innerhalb von zwei Monaten Gehalt, weil sie ihre Arbeit hervorragend erledigt. Als zeichnerisch sehr begabt, fällt ihr im Atelier Retusche zu, also die zeichnerische Manipulation der Fotonegative und der Papierabzüge. Aufgrund einer Neurodermitis muss sie ihre Arbeit aufgeben und begibt sich 1917 zur Therapie in ein Krankenhaus. Eine Rückkehr ins Atelier Dührkoop ist aufgrund der geschäftlichen Situation nicht möglich. Wahrscheinlich durch die Vermittlung von Minya Dührkoop, hat sie aber nun die Möglichkeit von deren Bekannten und Konkurrentin Emma Wiemann zu lernen. Anny Breer schreibt "Die künstlerische Auffassung ihrer Porträts hatte mich schon immer begeistert." Dabei hat sich die junge Witwe selbst erst im August 1915 in Hamburg selbständig gemacht und ist nur knapp vier Jahre älter als Anny Breer, die hier erstmalig die Möglichkeit bekommt, Porträts als sogenannte Operateurin selbst zu verantworten. Sie ist mit sich zufrieden. Die Porträts sind: "alle gleich intuitiv erfasst … und im richtigen Blick für Aufbau, Beleuchtung und Komposition... Immer mehr spürte ich, dass dieser Beruf mein Schicksal wurde und ich eine Berufung dafür hatte." Was Anny Breer nach ihrer Zeit als Volontärin bei Wiemann zwischen Sept. 1918 und Sept. 1922 getan hat, muss vorerst offen bleiben. Nach eigenen Angaben ist sie ab September 1918 ein paar Monate im Atelier Bieber tätig, wird dort aber nicht glücklich. 1922 macht sie sich inoffiziell selbständig. In der Villa ihrer Halbschwester in der Brahmsallee funktioniert sie das ehemalige Kinderzimmer zum Atelier um. Die ersten Kunden nimmt sie mit einer geliehenen 18x24cm Atelierkamera auf, die Negative und die Abzüge entwickelt sie in einem Mietlabor für Amateurfotografen. Mit der Erteilung eines Gewerbescheins macht sie sich dann in eigenen Räumlichkeiten in der Lübeckerstraße 78 im September 1922 offiziell selbständig. Fünf Jahre baut sie sich einen Kundenstamm auf. Erste Porträts erscheinen in der Fotobeilage des Hamburger Fremdenblattes. 1927 engagiert sie das Deutsche Schauspielhaus, um Bühnenaufnahmen und Rollenporträts anzufertigen. So entstehen Fotos von der Uraufführung von Erich Wolfgang Korngolds "Das Wunder der Heliane" und SchauspielerInnenporträts u. a. von Maria Eis. Diese werden in "Der Kreis. Zeitschrift für künstlerische Kultur" veröffentlicht, eine Publikation mit Schwerpunkt auf dem Hamburger Bühnengeschehen. Aber auch Musik, bildende Kunst, Tanz und Architektur werden von Autoren wie Hans Leip, Hans Henny Jahn, Max Beckmann und anderen unter avantgardistischer Perspektive diskutiert, bis die Zeitschrift 1933 verboten wird. Um sich geschäftlich breiter aufzustellen, bemüht sich Anny Breer erfolgreich um Aufträge im Bereich der Sach- und Architekturfotografie. 1927 fotografiert sie ausgiebig und mit fachlichen Können die neuen Glocken der St. Nikolai-Kirche. 1929 begleitet sie den Um- und Erweiterungsbau des katholischen Marienkrankenhauses in Hohenfelde. In einer 1929 anlässlich der Fertigstellung des Krankenhauses publizierten Veröffentlichung erscheinen 74 Fotografien Anny Breers, die sämtliche Gebäude des Krankenhauses von innen und außen zeigen. Dazu die Bildnisse sämtlicher Oberärzte. An ihnen zeigt sich beispielhaft Breers fotografische Herangehensweise. Sie gibt nach dem Krieg zu Protokoll: "Wenn eine Bildnisphotographie…ein Photogramm der Persönlichkeit werden soll, und kein Zufallstreffer, …so läßt sich das Wesentliche eines Menschen nur erfassen, wenn das ICH des Photographen zurücktritt." Die Oberärzte werden von ihr vor einen dunklen Hintergrund platziert. Ein Lichtakzent im oberen linken Quadranten vermeidet den Eindruck zu starker Eintönigkeit des Hintergrundes und dynamisiert das Bild. Mal kommt das Licht von rechts, mal von links. Die Herren sitzen im Viertelprofil, leicht eingedreht, oft etwas diagonal im Bild positioniert. Per Kadrage entstehen Brust- oder Hüftbilder. Die Gesichtsausdrücke reichen von müde über nachdenklich bis hin zu aufmerksam und konzentriert. Durch diesen Einsatz ästhetischer Gestaltungsmittel gelingt es ihr, die beruflich homogene Gruppe der Oberärzte trotzdem als Individuen in ihrer je eigenen charakterlichen Verfasstheit darzustellen. Im Gegensatz dazu fotografiert sie die Räumlichkeiten menschenleer, klinisch rein, funktional. Auch Paul Frank, als Hamburger Protagonist des Neuen Bauens verantwortlich für die Laubenganghäuser in der Jarrestadt und am Dulsberg, beauftragt sie, letzteres fotografisch zu dokumentieren. Sie passt ihren Stil der neuen sachlichen Bauform an, da sie auch hier, wie bei den Porträts, das eigene Ich in den Dienst der Sache stellt und versucht auch hier den Charakter des Gebäudes bildmäßig zu erfassen. Vielleicht dadurch für die Lebensumstände der weniger vermögenden Bevölkerungsschichten sensibilisiert, nimmt sie 1930/31 einen Auftrag vom "roten Grafen" Alexander Stenbock-Fermor für sein Buch "Deutschland von unten" an, in dem er die sozialen Verhältnisse anprangert. Eine Hamburger Arbeiterfamilie sitzt auf Breers Foto rund um den Küchentisch in einer alten, heruntergekommenen Wohnung. Ein Bild, das genau die Verhältnisse zeigt, die zu ändern sich der Autor des Buches und die Architekten des Neuen Bauens auf die Fahnen geschrieben haben. Mittlerweile sind gut 10 Jahre seit dem Beginn ihrer Selbstständigkeit vergangen. Die Zeiten, in denen das Kinderzimmer als behelfsmäßiges Atelier herhalten muss, sind Geschichte. Stattdessen kann sie nun, im April 1933, mit vier MitarbeiterInnen mit ihrem Atelier an den Neuen Wall Nr. 2, Ecke Jungfernstieg, umziehen. Anny Breer hat die Räume von Hans Leip übernommen und bleibt dort bis zur völligen Ausbombung im Juli 1943. In den Jahren dazwischen beginnt sich ihr Ruf über die Grenzen Hamburgs auszubreiten. Seit mindestens 1927 stellt sie aus. So bei "Frauenschaffen des 20. Jahrhunderts" in Hamburg neben Paula Modersohn-Becker und Käthe Kollwitz und ihrer ehemaligen Lehrerin Minya Dührkoop. 1929 stellt sie in der Altonaer Kunstausstellung neben den FotografInnen der Neuen Sachlichkeit und des Neuen Sehens wie Renger-Patzsch, Herbert und Irene Bayer, Aenne Biermann, Hans Finsler, und den Geschwistern Leistikow aus, ohne sich jedoch in ihrem Stil durchgehend dem Neuen Sehen oder der Neuen Sachlichkeit verpflichtet zu fühlen. 1932 und 1933 zeigt sie Fotos neben den lokalen aber überregional bekannten FotografInnen Olga Linckelmann und Lotte Genzsch. 1936 stellt sie in den Räumen des Werkbundes an der Rothenbaumchaussee aus und veranstaltet selbst Atelierausstellungen und Künstlerfeste in ihrem neuen Atelier. 1938 erzählt sie im Rahmen der Rundfunksendung "Schaffende Frauen in Hamburg", wie sie zur Fotografie kam. Durch die totale Zerstörung von Wohnung und Atelier 1943, die sie überlebt, weil sie zu der Zeit zur Kur in Marienbad weilt, ist sie erneut mit Existenzängsten konfrontiert. Als Notlösung zieht sie wieder in die Brahmsallee zu ihrer Stiefschwester. Erst 1946 findet sie neue Räume in einem teilzerstörten Gebäude am Speersort 8. Die Mühen der Reparaturen, die Existenzängste, eine Krankheit, verzögern die Ateliereröffnung bis zum 15.11.1947 in Mitten einer Trümmerlandschaft. Als ihr Erspartes 1948 durch die Währungsreform vernichtet wird, ist sie verzweifelt. Aber eine Ausstellung ihrer Fotos 1948 unter dem Titel "Köpfe aus dem kulturellen Leben Hamburgs " und Kredite helfen über das Ärgste hinweg, bis sie sich wieder gefangen hat. 1954 wird die letzte Baulücke am Ballindamm 35 geschlossen. Sie bekommt die Möglichkeit dort ein Atelier einzurichten. Zurück an der Alster, in ihrem Wohn- und Fotoatelier wird sie nun noch 14 Jahre ihrem Beruf nachgehen. Auf der "Bildausstellung deutscher Berufsfotografen" 1955 bekommt sie eine Ehrenurkunde für ihren Beitrag. Sie hat keine Altersversicherung und muss daher bis ein Jahr vor ihrem Tod arbeiten. Ihr Alter verschweigt sie, aus Furcht, es könnte geschäftsschädigend wirken. Aber die Kundschaft bleibt ihr treu. Neben der Hamburger Prominenz aus Kunst, Politik und Wirtschaft fotografiert sie nationale Bekanntheiten wie Marie Luise Kaschnitz und Werner Finck und Weltstars wie José Ortega y Gasset und Pierre Boulez. Ihre Assistentin, Waltraut Frisch, übernimmt das Atelier, als Anny Breer 1968 in den Ruhestand geht. Breer schreibt an Fritz Kempe wenige Monate vor ihrem Tod: "Das Leben ist nach meiner heutigen Erfahrung und im Rückblick auf alles Mühen absurd, nur auf den Tod hingelebt. Aber wenn der Mensch sich ganz auf sich selbst stellt, in eigener Verantwortung und im vollen Bewusstsein, dass er zuletzt doch allein ist, kann er daraus eine Kraft entwickeln, die ihm Widerstand verleiht." Widerstand auch gegen eine berufliche Konkurrenz, die über ihr 40 jähriges Berufsleben in kaum einer anderen Stadt, abgesehen vielleicht von Berlin und München, so hart ist wie in Hamburg. Anny Breer stirbt an dem Tag, an dem mit Neil Armstrong zum ersten Mal ein Mensch seinen Fuß auf den Mond setzt, am 21. Juli 1969. Text: Klaas Dierks

    Hildegard (Hilde) Claassen

    geb. Brüggemann

    Leiterin des Claassen Verlages

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    21.4.1897
    Linnich

    16.2.1988
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    Ihr Grabstein steht im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof Hildegard Brüggemann entstammte einem Pastorenhaushalt. Von 1913 bis 1916 besuchte sie ein Gymnasium in Aachen; von 1916 bis 1920 studierte sie Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte an der Universität München. 1920 erfolgte die Promotion. Hildegard Brüggemann war Mitbegründerin der Kunstgalerie Franz M. Zatzenstein/Matthiesen, "deren Inhaber 1934 nach London emigrierten". Bis zu ihrer Eheschließung mit Eugen Claassen arbeitete sie in München und Berlin an Ausstellungen über Daumier und Toulouse-Lautrec mit." 1) 1925 zog Hildegard Brüggemann nach Frankfurt a. M. und heiratete 1926 Eugen Claassen, den Leiter des dortigen Societäts-Verlages. Kennengelernt hatten sich die beiden im "Bund freier Menschen" um Oskar Maria Graf, als Hildegard Brüggemann noch studierte und damals mit den Schriftstellerinnen Regina Ullmann und Hertha König zusammenwohnte. Über seine Freundin erhielt Eugen Claassen auch Kontakt zu Nolde, Kirchner und George Grosz. Ein Jahr nach der Hochzeit wurde die Tochter Judith geboren. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde die Möglichkeit einer Emigration aus Deutschland diskutiert. "Ausschlaggebend für die Entscheidung des Ehepaares gegen die Emigration aber wird gewesen sein, daß Claassen, wie auch Hilde Claassen in ihren Erinnerungen notiert, die unter Intellektuellen sogar in Exilkreisen noch im Frühjahr und Sommer 1934 weitverbreitete optimistische Fehleinschätzung teilte, daß, ‚alles bald vorüber' sein würde." 2) 1934 gründeten H. Goverts und Eugen Claassen den Claassen Verlag. Die erste Verlagsadresse war die Hamburger Alte Rabenstraße 12: die Privatwohnung von Goverts. Zur Verlagsgründung kam es, weil sich Eugen Claassen wie auch Henry Goverts: "nach 1933 in ihrer Arbeit stark eingeschränkt gesehen [hatten]; Goverts verlor seine Lehrerlaubnis an der Universität, Claassen konnte im Frankfurter Societäts-Verlag nicht mehr die Bücher herausbringen, die seiner liberalen Haltung entsprochen hätten. Die Gründung des eigenen Verlages war eine Art Flucht nach vorn ? Goverts sorgte für die finanziellen Voraussetzungen, Claassen für die nötige Verlagserfahrung, (…).3) Hildegard Claassen war von der Idee einer Verlagsgründung anfangs nicht begeistert. Darüber schrieb sie 1972 "in einem Geburtstagsbrief an Henry Govers: '(…) als Du uns im Frühjahr 1934 in Frankfurt besuchtest, da bezogen sich unsere Gespräche alle auf ein einziges Thema: den Verlag, den Du mit Eugen gründen wolltest, und der in Hamburg seinen Sitz haben sollte. Ich weiß noch genau, wie erschrocken ich im Anfang über diesen Plan war, denn er durchkreuzte unseren Wunsch, aus Deutschland fortzugehen. Damals während eines Spazierganges über die Ginnsheimer Höhe, erzählte ich Dir, daß ich gerne wieder die Leitung einer Bildergalerie übernähme, ‚meiner' Galerie, wie Eugen sie immer genannt hat, die in London eine Filiale eröffnen wollte. Aber Du meintest, Hamburg sei immer noch imstande, es mit London aufzunehmen.'" 4) Der Verlag wurde gegründet. "Gemeinsam suchten sie [die Verleger] einen Weg, ihrer politischen Haltung durch die Literatur Nachdruck zu verleihen, vermieden die Veröffentlichung nationalsozialistischer Autorinnen und Autoren, förderten junge und hielten Kontakt zu emigrierten Schriftstellern. Ein erster Bestseller gelang dem Haus 1937 mit der deutschen Ausgabe von Margaret Mitchells ‚Vom Winde verweht'. Bis zum Juli 1941 war das Buch 276.900 mal verkauft und finanzierte so das stetig wachsende Literaturprogramm, zu dem unter anderem Marie Luise Kaschnitz, Heinrich Mann, Elisabeth Langgässer, Elias Canetti, Erich Fried, Irmgard Keun und Marlen Haushofer gehören sollten. Auch das Werk Hermann Melvilles wurde hier für die deutsche Leserschaft entdeckt, nicht anders die Bücher von Evelyn Waugh, Cesare Pavese und Pablo Neruda. Nach dem Krieg bekam der Verlag deshalb als einer der ersten von der Britischen Besatzungsmacht die Lizenz, sich unter der Firmierung Claassen & Goverts neu zu gründen. Bis sich die beiden Gründer 1947 trennten und Claassen seinen Verlag bis zu seinem Tod 1955 allein weiterführte." 5) Zurück zu Hildegard Claassen: Im April 1936 zog sie mit ihrer Tochter nach Hamburg - ihr Mann war bereits ein Jahr zuvor dorthin gezogen. Die Claassens wohnten damals in der Körnerstraße 21, der Verlag befand sich nun in der Moorweidenstraße 14. Hildegard Claassen wurde die engste Mitarbeiterin ihres Mannes. In den ersten Jahren des Bestehens des Verlages hatte sie entscheidend bei der Auswahl deutschsprachiger sowie englisch- und französischsprachiger Romanmanuskripte mitentschieden. Eugen Claassen verließ sich auf das Urteil seiner Frau. Lehnte sie ein Manuskript ab, dann wurde das Manuskript nicht angenommen. 6) In der NS-Zeit war Hilde Claassen von 1936-1945 Mitglied der NSV (nationalsozialistische Volkswohlfahrt) und von 1940-1945 im Luftschutz. 7) Nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1955 führte Hildegard Claassen den Verlag allein weiter. Dazu äußerte sie: "Für die Nachfolgerin [von Eugen Claassen] war es eine Selbstverständlichkeit, alles zu tun, um die vorgezeichneten Linien des Verlagsgesichts im Geist des Begründers weiterzuführen. Das sollte aber nicht heißen, daß ängstlich am Überkommenen festgehalten werden mußte, denn immer wieder machte ich die Erfahrung, daß ein Buch seine volle Wirksamkeit erst in einem bestimmten Zusammenhang, wie er etwa von den Zeitumständen oder den Strömungen in der Literatur bestimmt wird, zu entfalten vermag … Der Hauptakzent lag auf der zeitgenössischen deutschen Literatur. Der Verlag brachte Prosa von Christian Geißler, Geno Hartlaub, Gustav Schenk, Thomas Valentin, Prosa und Lyrik von Marie Luise Kaschnitz, Lyrik von Cyrus Atabai, Erich Fried, Walter Helmut Fritz, Peter Jokostra, Urs Oberlin, Johannes Poethen. Besonders hingewiesen sei auf die Bücher von Ernst Weiß, die lange Zeit verschollen waren, und auf die großen Werksausgaben von Elisabeth Langgässer und Karl Wolfskehl und auch auf die Gesamtausgabe von Heinrich Mann, die als Lizenzausgabe vom Aufbau Verlag übernommen wurde. (…)." 8) Das Verlagsgeschäft war in den 1960er ziemlich schwierig. "Mancherlei Überlegungen und Verhandlungen in den Jahren 1965 und 1966 galten darum der Zukunft des Verlages, für den Hilde Claassen auch ihres Alters wegen nicht länger allein die Verantwortung tragen wollte." 9) 1967 verkaufte Hildegard Claassen den Verlag an die Econ Verlagsgruppe, in der der Claassen Verlag unter seinem Namen fortbestand und Hildegard Claassen als Cheflektorin im Verlag tätig blieb. "Das Lektorat blieb deshalb noch bis 1972 in Hamburg. In dieser Zeit hat Hilde Claassen aus der historischen Verlagskorrespondenz die Briefwechsel ihres Mannes mit Autoren und Übersetzern ausgewählt, die dann zusammen mit seinen Aufsätzen 1970 zum 75. Geburtstag Eugen Claassens erschienen." 10) Hildegard Claassen erhielt 1967 das Verdienstkreuz 1. Klasse. "Seit 2004 gehörte Claassen zur Verlagsgruppe Ullstein Buchverlage, die es in der heutigen Zusammensetzung seither gibt. 2009 wurde dann das Programm von Claassen stillgelegt, (…), um das literarische Profil von Ullstein zu schärfen, Ullstein stärker für Literatur zu öffnen. Über zehn Jahre später wird das Imprint nun wieder belebt." 11) Text: Rita Bake Quellen: 1) Anne-M. Wallrath-Janssen: Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich. München 2007, S. 23, Fußnote 17. (Archiv für Geschichte des Buchwesens, Studien 5.) 2) Anne-M. Wallrath-Janssen, a. a-. O., S. 40. 3) Börsenblatt des deutschen Buchhandels 27. September 2019, unter: https://www.boersenblatt.net/2019-09-27-artikel-ullstein_laesst_claassen_wieder_aufleben-erstes_programm_im_fruehjahr_2020.1733468.html 4) Eugen Claassen. Von der Arbeit eines Verlegers. Bearbeitet von Reinhard Taghrt unter Mitarbeit von Huguette Hermann, Gudrun Karlewski und Monika Waldmüller, in Marbacher Magazin, 19/1981. 5) Börsenblatt des deutschen Buchhandels, a. a. O. 6) Vgl.: Anne-M. Wallrath-Janssen, a. a. O., S. 102. 7) Staatsarchiv Hamburg, 221-11_74575 8) Hilde Claassen in dem Aufsatz: "Geschichte des Claassen Verlages" 1969. Zit. aus: Proben und Berichte. Ein Almanach zum fünfzigjährigen Bestehen des Verlages. 1934-1984. 9) Anne-M. Wallrath-Janssen, a. a. O. S. 27. 10) Marbacher Magazin, a. a. O., S. 30. 11) Börsenblatt des deutschen Buchhandels, a. a. O.

    Molly und Helene Cramer

    Malerinnen

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    25.6.1852
    Hamburg

    18.1.1936
    Hamburg
    13.12.1844
    Hamburg

    14.4.1916
    Hamburg
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    Erst nach dem Tod ihres Vaters, des vermögenden Kaufmanns Cesar Cramer, konnten sich die beiden Schwestern Helene und Molly Cramer ihren Lebenstraum erfüllen und ihre Ausbildung als Malerinnen beginnen, denn der Vater war stets gegen diesen Beruf gewesen. So begannen die Schwestern 1883, ein Jahr nach dem Tod des Vaters, mit ihrer Ausbildung. Damals war Helene bereits 39 und Molly 31 Jahre alt. Da in der damaligen Zeit eine Berufsausübung für bürgerliche Frauen noch als Ausnahme galt, und künstlerisch veranlagte Frauen des Bürgertums ihr Können meist nur dilettantisch ausübten, nicht aber als Beruf, waren die Schwestern Molly und Helene Cramer eine Ausnahme. Sie „wollten ihre Kunst nicht dilettantisch betreiben, sie wollten leisten, was sich erreichen lässt, und mit großer Energie sind sie an ihre Studien gegangen und haben ihre Kunst immer von diesem Gesichtspunkt betrachtet“, schrieb die Frauenrechtlerin und Schriftleiterin der Zeitschrift Frau und Gegenwart, Frieda Radel (ein Erinnerungsstein steht im garten der Frauen) im Hamburgischen Correspondenten vom 13. September 1904. Helene lernte in Hamburg bei Carl Oesterley - ein in Hamburgs gutbürgerlichen Kreisen geschätzter Landschaftsmaler - und bei Carl Rodeck, der bekannt war für seine Darstellungen von Hafen und Stadt. Molly begann ihre künstlerische Ausbildung bei dem bekannten Zeichner Alt-Hamburger Szenen, Theobald Riefesell und den Malern Hinrich Wrage und Carl Rodeck. Ab 1886 begann Helene Cramer ihre Bilder in ganz Deutschland und im Ausland auszustellen. Ihre Schwester tat dies deutschlandweit ab 1888. Daneben bildeten sich die Schwestern weiter: Helene setzte ihre Studien 1887 in Den Haag bei Marguerite Roosenboom fort, die damals die bedeutendste holländische Blumenmalerin war. Um 1890 ging Helene mit ihrer Schwester Molly nach Antwerpen und lernte bei Eugène Joors Blumenstillleben unter Einfluss der alten holländischen Schule. Dieses Thema verfolgten die Schwestern konsequent weiter. Damit trafen sie den Geschmack des damaligen Direktors der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark. 1895 erwarb er sogar für die von ihm begründete „Sammlung von Bildern aus Hamburg“, die die Entfaltung einer modernen Hamburgischen Kunst befördern sollte, für die Hamburger Kunsthalle je ein Blumenstillleben von Helene und Molly Cramer. Dazu schrieb er an die ‚Commission für die Verwaltung der Kunsthalle’: „Der Ankauf der Blumenstücke von Frl. Molly und Helene Cramer durch die Kunsthalle hat mich so herzlich gefreut (...). Einmal war es mir eine Genugthuung für die beiden Damen, die es mit der Kunst so ernst nehmen, wie wenige, die sich auf ein Gebiet, das dem Talente der Frau vor Allem zusagt, weise beschränkt haben, die jetzt in Deutschland die ersten in ihrem Fache sind, und die in Hamburg ihrem Werthe nach nicht anerkannt werden“ 1). Helene Cramer zeigte in ihren späteren Werken auch impressionistische Tendenzen. Auch Molly beschäftigte sich mit dem Impressionismus und erweiterte ihr Können auch auf Landschafts- und Portraitmalerei. 1892/93 wurden die Schwestern Mitglieder im Verein der Berliner Künstlerinnen. Zwei Jahre später begannen sie in ihrem Elternhaus auf der Uhlenhorst, Karlstraße 18 gesellige Kulturabende und Diskussionsrunden zu veranstalten. 1895 fuhren die Schwestern mit Arthur Illies und Ernst Eitner zur Großen Kunstausstellung nach Paris. Danach folgten mehrere Auslandsaufenthalte in Paris und London. Molly und Helene Cramer konnten es sich finanziell leisten, Ernst Eitner zu fördern und ihm auch die gemeinsame Reise zur Kunstausstellung nach Paris zu ermöglichen. Daneben wurden die Schwestern ab 1897 zu Gönnerinnen des „Hamburgischen Künstlerclubs von 1897“, in dem u.a. Arthur Illies und Ernst Eitner Mitglied waren und der ein Zusammenschluss der damaligen jungen Künstler Hamburgs war. Eine Mitgliedschaft lehnten die Schwestern jedoch ab, beteiligten sich aber mit ihren Werken an den Ausstellungen des Künstlerclubs. Mitglied wurden sie hingegen im Jahre 1900 in der Münchener Künstlergenossenschaft. Der Hamburger Kunstverein verloste 1895 Molly Cramers Pastell „Austernschalen“ und 1903 ihr Bild „Primeln“. Helenes Bild „Rosen“ wurde 1900 im Hamburger Kunstverein verlost, und ihr Werk „Primeln“ kam 1911 in die Weihnachtsverlosung des Hamburger Kunstvereins. Molly Cramer schenkte 1916 der Hamburger Kunsthalle 500 Mark, so dass damit der Ankauf eines Aquarells von Max Slevogt ermöglicht wurde. „Das künstlerische Ziel von Helene und Molly Cramer war ‘nicht etwa niedliche Damenmalerei’. Alfred Lichtwarks Vision eines heimatverbundenen Naturalismus’ als Grundlage einer neuen Kunst und ihr ungewöhnliches, emanzipiertes Selbstbewusstsein haben die Schwestern zu einer - heute vollkommen vergessenen - Ausnahme innerhalb der Hamburger Kunstgeschichte werden lassen (...)“ 1). Vier Jahre nach dem Tod ihrer Schwester Helene trat Molly 1920 der Hamburgischen Künstlerschaft bei. Sie überlebte ihre Schwester Helene um 20 Jahre. Text: Rita Bake Zitate: [1] Ulrich Luckhardt: „Eine ganz neue Welt öffnete sich dem Auge und dem Herzen“ - Die Hamburger Blumenmalerinnen Helene und Molly Cramer und ihr Förderer Alfred Lichtwark. In: Künstlerinnen der Avantgarde in Hamburg zwischen 1890 und 1933. Katalog zum ersten Teil der Ausstellung vom 21. Mai bis zum 20. August 2006 in der Hamburger Kunsthalle. Bd.1. Hamburg 2006, S. 13-21.      

    Minna Dittmer

    geb. Heerwagen Pseudonyme: Margot Werner u. Marie D.

    Schriftstellerin

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    18.10.1840
    Wandsbek

    17.8.1923
    Hamburg
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    Über Minna Dittmers Herkunft und Lebensgeschichte ist leider nichts zu ermitteln. Der Eigenverlag für einige ihrer Publikationen (so für das Werk "Durch Mitteilung zum Verständnis, durch Verständnis zur Zufriedenheit. Eine philosophische Skizze." Hamburg 1888) in Harvestehude sowie Themen und Stil ihrer Veröffentlichungen legen die Vermutung nahe, dass Minna Dittmer gebildeten, wohlhabenden gesellschaftlichen Kreisen angehörte und sich in der bürgerlichen Frauenbewegung engagierte. In ihrem unter dem Pseudonym Margot Werner erschienenen Werk "Eine Zeitfrage in 5 Bildern", Hamburg ca. 1888, fasst sie in fünf dialogischen Szenen ihre Philosophie der bürgerlichen Frauenbewegung unter der Fragestellung zusammen: "Schafft es sittlichen Nutzen, wenn das weibliche Geschlecht gewerbliche, künstlerische, wissenschaftliche Vorbildung - unter Umständen Ausbildung - genießt zum Zweck selbständigen Schaffens?" So bessert in der zweiten Szene eine begabte Pianistin die familiäre Haushaltskasse auf, indem sie Töchtern aus dem Freundeskreis Musikunterricht erteilt. Sie überzeugt ihren Gatten, der bis dahin eine Erwerbsarbeit seiner Frau als demütigend empfunden hatte, vom Sinn eines solchen Tuns in einer wirtschaftlichen Notlage. In der dritten Szene setzt die Freundin einer gutbürgerlichen Tochter das Studium der Zahntechnik (!) durch und macht sich selbstständig. Obendrein ist sie glückliche Ehefrau und Mutter. Nachdem der eitle Vater der gutbürgerlichen Tochter als Wirtschaftsbetrüger entlarvt wird, verlässt er die Familie. Seiner Tochter ist es nicht möglich, etwas zum Unterhalt der Familie beizutragen, weil der Vater ihr ein Studium und eine Erwerbsarbeit verboten hat. In der vierten Szene bessert eine Mutter als Schneiderin diskret das schmale Lehrergehalt ihres Ehemannes auf. Sie kleidet die fünfköpfige Familie ein und sorgt für ein schönes Wohnungsinterieur. Alle ihre Kinder, auch die Mädchen, erlernen Berufe: Retuscheurin, Kalligraphin, Buchhalterin, Schriftsetzer. Zur Silberhochzeit der Eltern ermöglichen ihnen die Kinder einen dringend benötigten Kuraufenthalt. Die fünfte Szene spielt in einer antiken Republik und zeigt einen fiktiven Dialog zwischen einer "Frau Doktorin" und der Frau eines Handwerkers. Minna Dittmers 56 Seiten umfassendes Büchlein "Maria. Eine Legende", Hamburg 1887, ist "Seiner Durchlaucht, dem Fürsten Bismarck, in Bewunderung und Ehrfurcht zugeeignet". Zitat aus dem Epos: "Kampf ist Beruf des Mannes zur Lösung der Probleme. Problem des Weibes ist: Sich selber zu erkennen und Wunden mild zu heilen, was feindlich, zu versöhnen." Minna Dittmer verfasste auch Gedichte, so "Naturkinder. Gedichte", Verlag v. J. F. Richter, Hamburg 1887, oder das Buch "Philo-Sophia oder Weisheitsliebe, Lebensweisheit. Ein Versuch, dem weiblichen Geschlechte die Lehren und Schriften der Philosophen Sokrates und Plato durch Kürze und Einfachheit mehr zugänglich zu machen und dessen Aufmerksamkeit auf die Schriften selbst hinzulenken." Stuttgart 1889.

    Eva Gaehtgens

    verh. Bertels

    Schriftstellerin

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    4.11.1872
    Hamburg

    31.1.1951
    Hamburg
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    Eva Gaehtgens war die Tochter des Gutsverwalters und Kreischefs in Wenden (heute: Cesis) im Norden Lettlands, Johann Friedrich Gaehtgens, und seiner Frau Caroline, geb. Schilling. Die Familie mit ihren acht Kindern lebte in der Nähe vom legendären Schloss Stomersee im damaligen Livland bzw. Kurland. Die romantische Seite ihrer Kindheit beschreibt die Schriftstellerin in ihren Büchern mit Erzählungen wie "Alt Livland. Heitere Bilder aus dem Baltikum" oder den Bänden "Großmutters Landgut" sowie "Winterleben". Anschaulich und idealisiert schildert sie die Innenwelt ihrer Kindheit, "als Livland dem sorglos spielenden Kinde glich, das mit jedermann gut Freund ist. Damals gab es keinen Druck von oben, keine Feindschaft nach unten. Die gute alte Zeit!" Ihre autobiographischen Erinnerungen, in denen sie z. B. auch volkskundliche Skizzen von Festen im Jahreslauf beschreibt, beziehen sich auf die Zeit etwa zwischen 1885 und dem Ende des 19. Jahrhunderts. Die Bücher wurden ab 1918 in der Agentur des Rauhen Hauses, dem Verlag des Rauhen Hauses, Hamburg, verlegt. Sie erschienen in einer Reihe von Publikationen, die der Verlag im Rahmen der "Inneren Mission" als pädagogische Literatur vertrieb. 1906 heiratete Eva Gaehtgens im Alter von 35 Jahren Julius Bertels. Nach der Hochzeit soll sie ihrem Mann an seinen Wohnort Rostow am Don gefolgt sein und ihn während der Ehe auf seinen Reisen durch das damalige Südrussland und Persien begleitet haben. Das Paar soll sechs Kinder gehabt haben. Vor dem Ersten Weltkrieg lebte die Familie Bertels wieder in Wenden. Während des Krieges hielt sich Eva Bertels bei ihrem Schwager, Pastor Max Glage, in Hamburg auf, und zwischen 1918 und 1919 wieder in Wenden, wo sie die für sie traumatischen Revolutionsereignisse erlebte, die sie in der 1925 erschienenen Schrift "Unter dem roten Grauen" verarbeitete. Ihr Mann Julius Bertels wurde 1918 auf dem Gut seines Cousins von Bolschewiki ermordet. Nach 1919 siedelte Eva Gaehtgens endgültig nach Hamburg über. Dorthin bestanden enge verwandtschaftliche Verbindungen: So wohnte nicht nur ihr Schwager in Hamburg, sondern auch ihr Cousin, der Dramatiker und Erzähler Hermann Gaehtgens. Im Zweiten Weltkrieg wurde Eva Gaehtgens zweimal ausgebombt und lebte danach in Posen. In ihrer hauptsächlich an Kinder gerichteten Hamburg-Literatur sparte sie den Zweiten Weltkrieg nicht aus. Sie beschrieb ihn tröstlich als soziales Ereignis, das den Vater von zu Hause wegnimmt bzw. verändert zurückkehren lässt. In ihren Kinderbüchern beschreibt Eva Gaehtgens Eltern und Erwachsene stets als einfühlsam, verständnisvoll und nachsichtig belehrend. Ihre beispielhaften Erzählungen sollen Kinder etwa zu Fairness, Mut, Sparsamkeit und Frömmigkeit anhalten. Eva Gaehtgens' Kinderbücher erlebten eine weite Verbreitung, worauf hohe Auflagen von 10.000 Exemplaren hindeuten.

    Gabriela Giordano

    Malerin

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    27.1.1946
    Hamburg

    20.2.1998
    Hamburg
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    Gabriela Giordano war das jüngste Kind der Klavierlehrerin Lilly Giordano, geb. Seligmann-Lehmkuhl (16.1.1897 Hamburg – 1.1.1980 Hamburg) und des Pianisten Alfons Giordano. Für Lilly Giordano, die mit Gabriela im Alter von 48 Jahren schwanger wurde, befindet sich ein Erinnerungsstein in der Erinnerungsspirale im Garten der Frauen.   

    Gabriela Giordano hatte noch drei Geschwister, unter ihnen der spätere Schriftsteller Ralph Giordano (1923-2014).

    Die Familie lebte nach dem Krieg in einer Wohnung an der Elbchaussee und war damals antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. „Gegen verleumderische Handzettel mit der Aufschrift ‚Judenschweine raus!‘ strengte [die Familie Giordano] (…) eine Strafanzeige gegen Unbekannt an, die zu Ermittlungen bis ins Jahr 1954 führte, ohne dass Täter gefasst wurden (…).“1)

    In den 1960er Jahren zog Gabriela Giordano mit ihren Eltern in die Hufnerstraße 118. 1972 starb der Vater. 1978 kam Gabriela Giordano in die Alsterdorfer Anstalten. Ein Jahr später zog ihre Mutter, nun 82 Jahre alt, in das nicht weit von den damals so genannten Alsterdorfer Anstalten entfernte Pflegeheim Alsterberg, wo sie am 1.1.1980 verstarb.

    Nach dem Tod ihrer Mutter lebte Gabriela Giordano in den 1980er Jahren im Stadthaus Schlump, damals eine Außenstelle der Alsterdorfer Anstalten (heute evangelischen Stiftung Alsterdorf). Zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Frida war sie regelmäßiger Gast im Atelier der Schlumper, hatte sich aber als bildende Künstlerin nie solch einen Namen gemacht wie zum Beispiel Inge Wulff.

    Zu ihrem berühmten Bruder Ralph Giordano hatte sie zu ihrem Bedauern kaum Kontakt. In seinem autobiographischen Roman „Die Bertinis“ erwähnt Ralph Giordano seine Schwester, die im Roman Kezia genannt wird, und lässt den Arzt, der bei der Geburt dabei gewesen war, sagen: „‘Ihre Schwester ist ein mongoloides Kind. (…) Es war vorauszusehen. Das Alter der Mutter, die Erlebnisse während der Schwangerschaft, die Jahre davor. (…). Dieses Kind hätte nie geboren werden dürfen.‘ (…). Vielleicht hättet ihr vergessen können, was hinter euch liegt. Aber mit diesem Kind – nie.‘ (…).

    Mit der Geburt dieses Kindes war also keine neue Zeitrechnung in der Chronik der Sippe angebrochen, wie er [Roman Bertini] gehofft hatte in der Stunde der Eröffnung, daß Lea schwanger sei. Es war nichts mit der Erwartung, daß mit diesem Kind nicht nur ein Bertini-Sproß ohne Verfolgung und Angst, in Freiheit und Sicherheit aufwachsen würde, sondern dermaleinst auch den Unterschied kennte zwischen seinem Leben und der Nacht der Brüder, Eltern und Großeltern, deren Geschichte ihm dann nur mehr klänge wie eine ferne Sage.“2) Zum Schluss des Buches schreibt Ralph Giordano wen Roman Bertini, der sich mit dem Gedanken getragen hatte, auszuwandern, schlussendlich doch in Hamburg hielt: „Lea hielt ihn, seine standhafte, hilflose, unermüdliche und schwache Mutter. Und Alf hielt ihn, (…) wie konnte er den Vater verlassen? Und Kezia hielt ihn, seine Schwester, die nie wissen würde, wer ihre Brüder waren: Kezia Bertini, deren Umnachtung ihre Angehörigen immer an die Vergangenheit erinnern würde, und die in Roman die wunderbar tröstliche Gabe des Menschen auslöste, Hilflose mehr zu lieben.“3)

      

    Quellen: 1. Peter Petersen: Lilly Giordano, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen (Hg.), Hamburg: Universität Hamburg, 2014 (www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00005725).

    2) Ralph Giordano: Die Bertinis. Frankfurt a. M. 1982, S. 788f.

    3) Ralph Giordano, a. a. O., S. 809.

    Marie Groot

    geb. Schär

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    29.4.1898
    Ohe/Kr. Stormarn

    20.5.1946
    Hamburg
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    Marie Groot war verwandt mit den Inhabern der Kunsthandlung Groot am Klosterstern 6, die Henry Groot gehörte, und dem Postkarten-Großvertrieb und Verlag Martin Groot in der damaligen Königstraße 25 (Groot-Haus), der heutigen Poststraße in der Hamburger Innenstadt. Das Kunsthaus Groot in der Königstraße kaufte und verkaufte Brillanten, Gold- und Silberwaren, Orient-Teppiche und Gemälde bekannter Meister. Unmittelbar nach Marie Groot's Tod im Jahre 1946 erhielten die Bildhauer Karl Tuchardt (1907-1984) und O.G. Hermann Perl (1878-1967) den Auftrag, das Grabmal für die Familiengrabstätte Groot herzustellen und schufen einen lebensgroßen marmornen weiblichen Akt, mit den Händen an Schulter und Schenkel ein großes Cape haltend, das die Gestalt hinterfängt. Zu Füßen der nackten Frauengestalt sitzt ein Dackel. Die Skulptur wird unterschiedlich interpretiert. Einige deuten sie als eine Allegorie der "Tierliebe", zu Ehren einer Frau, die Mitgefühl für alle leidenden Wesen hatte. Als deren Stellvertreter schaut der kleine Dackel zu Füßen der weiblichen Figur aufmerksam zu ihr hinauf, während sie mit der rechten Hand schützend ihren Mantelsaum um ihn legt. Diese Auslegung entspricht den Aussagen von Mitgliedern der Familie Groot. Sie berichten, dass es sich bei dem Dackel um Marie Groot's Hund Peppi handelt. Die Familie Groot schätzte Dackel als Haushunde. Ob die Skulptur Marie Groot selbst darstellen soll, ist nicht bekannt. Überhaupt ist bislang wenig über Marie Groot's Leben und Wirken in Erfahrung gebracht worden. Deshalb steht die Skulptur symbolisch für die vielen Frauen, denen wertschätzende Erinnerung nicht zuteil wird. Andere interpretieren die nackte Frauengestalt mit Hund als Artemis, die Göttin der Jagd, des Waldes und des Mondes sowie die Hüterin der Frauen und Kinder. Die "Herrin der Tiere" wurde von jungen Frauen und Hunden begleitet. Artemis schützte Frauen jeden Alters sowie Kinder beiderlei Geschlechts. Das Umsetzen der Skulptur in den Garten der Frauen sowie entsprechende landschaftsarchitektonische Maßnahmen und die Infotafel wurden gefördert durch die Freie und Hansestadt Hamburg, Kulturbehörde

    Charlotte Hilmer

    Malerin, Expressionistin

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    4.5.1909
    Hamburg

    7.5.1958
    Hamburg
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    Nach dem Abitur 1928 studierte Charlotte Hilmer von 1928 bis 1933 an verschiedenen Kunstschulen, so von 1928/29 an der Landeskunstschule in Hamburg; von 1929/30 an der Kunstakademie in Königsberg und von 1930 bis 1933 an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Während ihres Studiums beschäftigte sie sich hauptsächlich mit dem Aktstudium. Nach ihrer Ausbildung malte sie Personendarstellungen, Portraits und Stillleben. Nach 1941schuf sie auch Landschaften in Aquarell und Öl. In der Zeit des Nationalsozialismus konnte sie sich künstlerisch nicht frei entfalten. Ihren eigenen auf dem Expressionismus basierenden Stil entwickelte Charlotte Hilmer erst ab 1950 bis zu ihrem Tod 1958. Studienreisen führten sie nach Holland, Italien und Dänemark. Seit 1939 hatte sie Kollektiv- und Einzelausstellungen, so z. B. in der Hamburger Kunsthalle, in Lübeck, Darmstadt und Göttingen. Werke von Charlotte Hilmer befinden sich in der Hamburger Kunsthalle, im Märkischen Museum Witten und in Privatsammlungen. Verheiratet war Charlotte Hilmer mit dem Bildhauer Arnold Hilmer (1908-1993). Das Paar hatte eine Atelierwohnung in der Langen Reihe im Hamburger Stadtteil St. Georg. Später lebten beide in der Etzestraße in Hamburg Fuhlsbüttel.

    Marie Hirsch

    alias Adalbert Meinhardt

    Schriftstellerin und Übersetzerin

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    12.3.1848
    Hamburg

    17.11.1911
    Hamburg
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    „Marie von Ebner-Eschenbach ist keine zünftige Frauenrechtlerin. Nie hat sie absichtlich ihre Feder in den Dienst irgend einer Tendenz gestellt. Wenn wir dennoch uns aus all ihren Schriften sehr entschiedene Lehren ziehen können, so ist es eben ihre eigene starke Überzeugung, die sich nie verleugnen will. So sagt sie uns Frauen in jeder ihrer Frauengestalten (…). Vertrau auf dich und Deine Kraft! So sagt sie der Jugend (…). Sei Du selbst, sei Du selbst! – Ob Mann ob Weib, Dein ist das Recht der Selbstbestimmung, Deinem inneren Gesetz musst Du folgen. Es gibt kein höheres! Aber aus dem Bewusstsein der Freiheit, tiefinnerlicher, vorurteilsloser Freiheit des Denkens, erwächst zugleich die Kraft sich zu fügen. Das, was man als Pflicht erkannt hat, fraglos tun ist höher, ist größer als Freiheitsstolz. Gerade ihre selbstherrlichsten Gestalten beugen sich eigene Sittengesetze“ 1). Diese Worte, mit denen Marie Hirsch die Werke Marie von Ebner-Eschenbachs 1910 anlässlich des 80sten Geburtstags der Schriftstellerin im Hamburger Frauenclub charakterisierte, könnten fast ebenso gut ihre eigenen Arbeiten beschreiben. Marie Hirschs Bücher, zumeist Novellenbände, handeln von Glück suchenden Menschen, wie auch der Titel eines ihrer Bücher lautet. Da gibt es die Leidenschaftlichen, die unbedingt leben wollen. Die Zarten, Weichen, die zweifeln und zaudern, und die Stolzen mit ihren zerstörerischen Kräften. Keinem von ihnen wird Recht gegeben. Am Ende siegt immer die Besinnung auf die innere Pflicht, die Absicht, das Leben schön und würdig zu führen. Und häufig sind es die Frauen, denen das gelingt, die sich im Streit zwischen Liebe, Stolz und Würde auf letztere besinnen und handelnd in die Welt treten. „So lange du atmest, So lange du Mensch bist, das Leben ist golden, So lang du es willst“ 2), heißt es in einem Gedicht. Und an anderer Stelle bekennt sie: „Der Mensch selbst ist sein Schicksal. Ich liebe starke, hochgemute, stolze Menschen, die in sich so etwas wie einen kategorischen Imperativ tragen, der ihnen gebietet: Kopf hoch, die Zähne zusammengebissen und durch! –ob es weh tut oder nicht“ 3). Ein solcher Mensch ist Heinz Kirchner, der Titelheld ihrer erfolgreichsten Erzählung, die fünf Auflagen erreichte. Gegen den Widerstand des Vaters setzt Heinz Kirchner seine Berufswahl, Arzt zu werden, durch. Er ist so erfolgreich, dass der Vater bald seinen Irrtum eingestehen muss. Und auch in der Liebe geht Heinz einen oder besser seinen zielstrebigen geraden Weg. Als er erfährt, dass die geliebte Frau verheiratet ist, versucht er nur kurz, sie zu einer Trennung vom Ehemann zu bewegen, leistet dann jedoch Verzicht, ohne eine andere zu heiraten. Erst nach dem Tode des Ehemanns handelt er, fährt nach Amerika, um die geliebte Frau zu holen. Doch das Glück ist nur von kurzer Dauer. Heinz Kirchner erfährt nach wenigen Jahren, dass er an einem Herzleiden sterben muss. Doch schnell gewinnt er seine Fassung wieder. Seinem Wunsch entsprechend, werden auf die Graburne die Worte gesetzt, mit denen auch der Roman endet: „Es war ein Mensch. Und Mensch sein, heißt enden müssen.“ Nach solchen Prinzipien scheint Marie Hirsch auch ihr eigenes Leben gestaltet zu haben. Sie entstammte einer großbürgerlichen Familie, die in Wien einem großen, sehr angesehenen Kreis angehörte, und nach Hamburg übersiedelte. Nach dem frühen Tod der Eltern lebte Marie Hirsch zusammen mit ihren älteren Geschwistern, dem Bruder Philipp (geb. 1834), einem Rat der Justizverwaltung, und der Schwester Johanna (geb. 1840) in der Tesdorpfstraße, „in einem Häuschen inmitten eines schattenreichen, tiefen Parks, von Schlingpflanzen verdeckt und eingehegt in ein grünes Gewirr von Ranken“, wie ihr Schriftstellerkollege Richard Huldschiner anlässlich ihres 60sten Geburtstags im „Hamburger Fremdenblatt“ schreibt (12.3.1908). Die Geschwister übten großen Einfluss auf das Denken und Fühlen Marie Hirschs aus. Ihnen widmete sie auch ihr erstes Buch „Reisenovellen“. „P….. und J……. Mit Euch, Ihr Zwei, lernt’ ich auf mancher Reise Die schöne Welt genießen und verstehn, Mit Euch sah ich daheim, im gleichen Gleise, Die Jahre still an mir vorübergehn; Ihr habt ein Jeder mich nach seiner Weise Gefördert, mich geleitet klar zu sehn, Drum soll auch Euer sein, Ihr meine Lieben, Was ich mit Euch und für Euch nur geschrieben!“ Ein besonders inniges Verhältnis verband sie mit der Schwester. In der „aus dem Gedächtnis“ aufgeschriebenen Laudatio eines Freundes anlässlich des 60sten Geburtstags von Marie Hirsch heißt es: „Wer gleich uns über 30 Jahre in fast täglichem Verkehr und enger Freundschaft hier verbunden ist, der weiss, dass all die schönen und reichen Geistesgaben, die unsere Freundin Marie schmücken, dass all ihr Denken und Schaffen getragen wird von einer einzigen großen Leidenschaft, von der Liebe zu ihrer Schwester, einer Liebe, wie sie größer, reiner und hingebender nicht gedacht werden kann und diese, Marie´s ganzes Heim umfassende Liebe, die in vollem Masse ihr erwidert wird, (…) hat hier eine Verschmelzung geschaffen, ein Doppelleben, bei dem Empfangen und Geben nicht mehr zu unterscheiden ist. Ist aber auch die Grenzlinie zwischen Empfangen und Geben verwischt, in einem hat sich Marie ihre Eigenart (ein Wort das sie übrigens hasst) bewahrt, in einem ist sie die weitaus Gebendere und das ist in der sonnigen Auffassung des Lebens, in der wunderbaren Klarheit, mit der sie auch alles Dunkle und Schattenhafte durchleuchtet, in der frohsinnigen Heiterkeit ihrer Seele, die ihr das Leben so lebenswert macht“ 1). Marie Hirsch war sehr gebildet. Sie konnte Griechisch und Latein, beschäftigte sich mit Renaissance, las Petrarca im Original und übersetzte Bücher aus dem Italienischen und Spanischen. Sie unternahm Reisen nach Österreich, Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland. die Türkei, Marokko und kurz vor ihrem Tode nach Ägypten. Auf diese Reiselust geht auch der schon erwähnte Festredner ein, aber auch er sieht in dem selbst gewählten häuslichen Pflichtenkreis ihren wahren Ort: „Nun denn, meine Damen und Herren, da weiß ich, dass sie der Wünsche viele hat, sei es ein Automobil, um große weite Fahrten zu machen, sei es am Ende ein Luftballon, um Länder zu durchmessen und Neues kennen zu lernen. Alles, alles würde für sie Lebensreiz und Freude sein, aber nur eines weiß ich zu wünschen, was ihr Glück ausmacht und das ist, dass hier alles, alles ihr erhalten bleibe, wie es ist und dass der schöne Zusammenhang in diesem ihrem Heim sie bis in das späte Alter unverändert umgebe. Stossen Sie mit mir an, unsere Freundin Marie oder besser gesagt Hanka-Marie soll leben“ 1). Hanka-Marie ist vermutlich eine Anspielung auf das symbiotische Verhältnis von Marie Hirsch und ihrer Schwester Johanna. „Hanka zugeeignet“ ist auch die lange Erzählung „Stillleben“, die stark autobiographische Züge trägt. Die Erzählung handelt von zwei Cousinen, die gleichzeitig enge Freundinnen sind und denselben Namen tragen: Eleonore. In Wirklichkeit also nur eine Person, aufgespalten in zwei Romanfiguren. Die eine, Nora genannt, ist dunkelhaarig, glutäugig und leidenschaftlich, geht in die Welt, um Sängerin zu werden, die andere, Ellen, blond und sanft, bleibt beim Großmütterchen. Aber auch sie hat ihre Träume, sie will Schriftstellerin werden. (Unter den vielen Künstlern, die Marie Hirsch beschreibt, ist sie die einzige Schriftstellerin!) Und sie wird Schriftstellerin, sogar eine ganz erfolgreiche. Die Heiratsanträge des Arztes Dr. Küster lehnt sie zunächst ab: „Und das käme dabei heraus, wenn wir Mädchen uns einmal etwas Großes vornehmen? Nein, bei mir nicht!“ Am Ende aber wird sie doch die „Frau Doktor“ mit Heim und Kindern, wenn auch eine schreibende. „Und wenn ich Dich sehe, ruhig, gehalten, gesittet und kühl (…). Und in Deinen Büchern, - ich las sie alle, ich weiß wie sie bewundert werden, und bewundere sie selbst, - in deinen Büchern ist auch keine Silbe, die je gegen die gesetzmäßige Weltordnung verstieße“, sagt die gescheiterte Nora bei ihrer kläglichen Rückkehr aus Italien spöttisch zu Ellen. Sie möchte am liebsten gleich wieder weg, muss aber dann doch feststellen: „’Auch das ist schön hier.’ – ‚Siehst Du’, rief Ellen, ‚was erst nur grau in grau erscheint, zeigt doch, wenn man sich nur recht hineinsieht, dass es auch eine Poesie hat.’“ Ein Plädoyer für Mäßigung aus innerer Freiheit! Die Erzählung zeigt, was schon an der Sympathie, mit der Marie Hirsch die Liebenden und Künstler zeichnet, deutlich wird. Nicht ihre zaghaften, zaudernden Romanfiguren sind es, die der Autorin nahe stehen, sondern die Leidenschaftlichen, um deren Gefühle sie weiß, auch wenn sie sie weder sich noch ihren Romanfiguren gestattet. Die Romanfigur Ellen veröffentlicht, ebenso wie Marie Hirsch selbst, unter einem Pseudonym. Einen wichtigen Grund dafür nennt die Autorin selbst, wenn im Roman vor dem kritischen Auge eines Rezensenten nur männliche Autorschaft zählt: „Der Stiel dieses Autors ist von so ruhiger, ehrlicher Schlichtheit, er verhält sich so unpersönlich, erzählt objektiv, was sich begeben hat, dass man aufatmend denkt: Nun, endlich, da schreibt doch wieder ein Mann!“ In die gleiche Richtung geht, was Marie Hirsch von Marie von Ebner-Eschenbach erzählt. Sie habe unter männlichem Pseudonym zwei Rezensionen über sich selbst geschrieben, in denen sie alle die Argumente formulierte, die üblicherweise gegen die Kunst von Frauen vorgebracht werden: „Hat auch noch keine Frau in der Literatur etwas Hervorragendes geleistet, sie bildet jene Ausnahme, die zur Bestätigung der Regel durchaus notwendig erscheint. Ihr Buch (…) ist beinahe so gut, wie wenn ein Mann es geschrieben hätte. (…). Die Erfindungsgabe der Frauen ist bekanntlich keine Potenz, mit der man zu rechnen braucht, doch besitzen sie fast durchweg Talent zu minutiösem Fleisse, und hat sich dasselbe von alters her in der Ausfertigung von feinen Stickereien, Klöppeleien u.s..w. bekundet“ 1). Für die eigene Annahme eines männlichen Pseudonyms nennt sie allerdings einen anderen Grund: „Das Pseudonym hatte ich angenommen, um möglichst unentdeckt und ungestört arbeiten zu können, auch wusste durch die Jahre niemand außer den Allernächsten etwas von meinem Schreiben. Später, als es doch bekannt ward, hätte ich viel lieber meinen eigenen Namen auf dem Titel meiner Bücher gesetzt, doch musste ich mich dem Wunsche meiner Verleger fügen und den männlichen Schriftstellernamen beibehalten“ 4). Adalbert Meinhardt veröffentlichte – zunächst meist in verschiedenen Zeitschriften, später in Buchform – Erzählungen, Novellen, Dramen, Märchen, in die oft ihre eigenen Reiseerlebnisse und –eindrücke einflossen. Der Band „Aus vieler Herren Länder“, der Reiseskizzen enthält, wurde erst nach Marie Hirschs Tod von der Schwester herausgegeben. Die Schilderungen der Ägyptenreise erscheinen nur noch in der Zeitschrift „Die Nation“. Die Märchen Marie Hirschs sind weniger phantasie- und geheimnisvoll erzählt als manche Reisenovelle. Dort, wo die Autorin nahe an der Realität schrieb, entwickelte sie die meiste Phantasie. Auch an dem Leben der Heiligen Catarina von Siena, über die sie eine fiktive Biographie „Catarina. Das Leben einer Färberstochter“ schrieb, interessiert sie ein realistisches Moment, wenn sie am Ende des Romans als Grund für die Beschäftigung mit dem Stoff angibt: „Sondern es dünkte uns, mehr als all das, was Frauen heute wünschen und zu erreichen träumen, hatte sie vor fünfhundert Jahren schon erreicht: das Wissen, den Einfluss auf die Geschicke ihres Landes, die Tatkraft, die weise Staatsklugheit und das Ansehen unter den Männern. Sie war Volksfreundin, Schriftstellerin, Rednerin und Gesandte“5). Text: Brita Reimers Zitate: [1] Unveröffentlichter Nachlass. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Handschriftenabteilung. [2] Adalbert Meinhardt: Das Leben ist golden. Drei Novellen. Berlin 1897. [3] Adalbert Meinhardt (Marie Hirsch): In : Mitteilungen der Literaturhistorischen Gesellschaft. Heft 7. 2. Jg. 1907. [4] Zitiert nach: Richard Dohse (Hrsg.): Meerumschlungen. Frankfurt a. M. 1907. Reprint 1985. [5] Adalbert Meinhardt: Catarina. Das Leben einer Färberstochter. Berlin 1902.    

    Emma Israel

    Malerin

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    26.10.1898
    Hamburg

    21.2.1994
    Hamburg
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    Emma Israel entstammte einer wohlsituierten jüdisch-orthodoxen Kaufmannsfamilie, die in der Hochallee 104 lebte. Ihr Vater, Max Adolf Israel, verdiente sein Geld im Im- und Export mit Südamerika. Ihre Mutter, Louise, geb. Magnus, war Christin und Hausfrau und Mutter. Emma Israel wurde mit ihren beiden älteren Geschwistern im jüdisch-orthodoxem Glauben erzogen. Schon als Kind begann Emma Israel zu zeichnen. Ihre ersten Werke sind Kinderzeichnungen aus einem Sinti-Lager in Altona. Doch ihr Wunsch, Malerin zu werden, stieß bei den Eltern auf Ablehnung. Dennoch absolvierte Emma Israel gegen den Willen ihrer Eltern eine künstlerische Ausbildung an der Malschule von Gerda Koppel, später bildete sie sich bei dem Maler und Grafiker Heinrich Stegemann weiter. In den 1920er Jahren schuf sie feine künstlerische Stickbilder. "Ihre frühen Gemälde zeigen Einflüsse der französischen Malerei, besonders Cézannes, aber auch der Hamburgischen Sezession. (…) Vor 1936 ging Emma Israel ein Jahr lang mit einem Mann auf Vagabondage, was sie auf Veranlassung der Familie mit einem Jahr Landarbeit fern von Hamburg büßen musste."1) Während der NS-Zeit konnte "die Familie bis 1938 in relativ ungestörten Verhältnissen leben. Max Israel gelang es, Anfang der 1940er Jahre zu erwirken, dass das Haus in der Hochallee zum ‚Judenhaus' erklärt wurde, so dass die Familie dort verbleiben konnte".1) Allerdings musste sie Platz machen für weitere 40-50 Menschen. "Die Firma Stapel & Israel wurde 1941 zwangsweise als ‚nicht-arisch' gelöscht."1) In dieser Zeit wurde Emma Israel zu Zwangsarbeit in der Munitionsherstellung herangezogen. "Durch eine mutige Intervention bei der Gestapo konnte sie ihre Familie vor nächtlichen Übergriffen und vor der Deportation retten, indem sie ihren ‚Mischlings'-Status nachwies. (…) Die künstlerische Arbeit musste die Malerin einstellen." 1) Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus verdiente sich Emma Israel ihren Lebensunterhalt mit dem Kolorieren und Fälschen alter Stiche und dem Verkauf von Carepaketen auf dem Schwarzmarkt "Als Malerin blieb sie unbekannt und hatte zu Lebzeiten keine Ausstellung. Zum Lebensunterhalt kolorierte sie sehr geschickt Landkarten und Hamburgensien für Antiquare, die sie nach alter Weise aus Buchausrissen von unkolorierten Stahlstichen herstellte und patinierte. Zu Lebzeiten verkaufte sie sämtliche eigenen Bilder. Wenige Arbeiten befinden sich in Privatbesitz in Hamburg"1) 1975, als 80-Jährige, fungierte sie als Komparsin in Eduard Fechners Film "Tadellöser & Wolf", der u. a. in ihrem Haus in der Hochallee 104, das sie von ihren Eltern geerbt hatte, gedreht wurde. Im Alter verschenkte sie ihre Besitztümer. "Ihr kleines ererbtes Vermögen erschlich ein Heilpraktiker, bis sie verelendete und auf Sozialhilfe angewiesen war." 1) Text zusammengestellt aus Texten von Dr. Maike Bruhns über Emma Israel Quellen: Maike Bruhns: Emma Israel, in: Der neue Rump. Lexikon der bildenden Künstler Hamburgs. Überarbeit. Neuaufl. d. Lexikons von Ernst Rump. Hrsg. von Familie Rump, ergänzt, überarbeitet u. auf d. heutigen Wissenstand gebracht von Maike Bruhns. Neumünster 2013, S. 214. 1) Maike Bruhns: Kunst in der Krise. Bd. 2: Künstlerlexikon Hamburg 1933-1945. Verfemt, verfolgt - verschollen, vergessen. Hamburg 2001, S. 216.

    Irmgard Kanold

    Bildhauerin

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    9. 2. 1915
    Hamburg

    25.4.1976
    Hamburg
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    Die Tochter der Hamburger Kaufleute Max Kanold und Johanna Kanold, geb. Hartmann, wuchs im Eilbektal auf. Ihre erste zweijährige Ausbildung erhielt sie bei dem Hamburger Bildhauer und Keramiker Jürgen Heinrich Block. Mitte der 1930er Jahre studierte sie bei Edwin Scharff an der Akademie Düsseldorf und anschließend noch einmal eineinhalb Jahre an der Münchner Akademie der bildenden Künste bei dem Bildhauer Bernhard Bleeker. Dann ließ sie sich zeitlebens in ihrer Heimatstadt Hamburg nieder. In Hamburg hatte sie ein Atelier in der Hamburger Straße 192, unter der U-Bahnbrücke Dehnheide, wo sie zeitweilig in Kriegs- bzw. Nachkriegszeiten auch wohnte, bis sie Ende der 1950er Jahre mit ihrer Mutter nach Hamburg Groß-Flottbek zog. Die dortige Wohnung in der Waitzstr. 59 blieb auch nach dem Tod der Mutter im Jahre 1966 Irmgard Kanolds Zuhause. Dort lebte sie bis zu ihrem Tod 1976. Auch ihr langjähriger Lebensgefährte, der Astrologe Eggers, wohnte dort. Nach dem Tod des Vaters übernahmen Mutter - als Geschäftsführerin/Inhaberin - und Tochter - als Prokuristin - die im Handelsregister eingetragene Firma Max Kanold - Chemische Fabrik, die beim Tod der Mutter 1966 auf ihre Tochter als Firmeninhaberin überging. Welche Aktivitäten damals noch in der Firma entfaltet wurden, ist wie so vieles im Lebenslauf von Irmgard Kanold leider nicht bekannt. Die zeitlebens unverheiratet gebliebene Bildhauerin war Vegetarierin und folgte ihrem Lebensgefährten als Anhängerin der von diesem vertretenen Hohlraumtheorie. Der Verbleib ihrer Werke ist weitgehend unbekannt. Irmgard Kanold nahm zwischen 1938 und 1941 an mehreren Gemeinschaftsausstellungen Hamburger Künstlerinnen und Künstler im Kunstverein Hamburg mit Plastiken (Portraits) in Bronze, Kunststein, Holz und Gips teil. Sie unterrichtete Privatschüler und gestaltete Altar- und Krippenfiguren sowie Grabsteine; so auch ihren im Garten der Frauen aufgestellten Grabstein, einen trauernden Schwan.

    Erni Kaufmann

    (geb. Handke)

    Musikerin in Damenorchestern

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    3.6.1906
    Witten a. d. Ruhr

    11.10.1957
    Hamburg
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    Die musikalische Begabung der Geschwister Erni und Adolf Handke (31.12.1908-11.3.1975) zeigte sich schon früh. Ernis Bruder Adolf war von 1938 bis 1952 Erster Waldhornist im Berliner Philharmonischen Orchester, Ernis musikalische berufliche Laufbahn begann und endete in Hamburg in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Erni Handke spielte professionell Geige, Saxophon und Akkordeon. Sie trat u. a. mit dem Deutschen Damenorchester der Lissi vom Uhlenborn und mit dem Meistergeiger Ernesto Arcari aus Neapel im "Damen Attraktions-Orchester" auf. Sie gastierte mit den Damenorchestern u. a. im Haus Vaterland in Hamburg, einem "Konzertkaffee" mit Varieté und einem Tanzraum, in dem internationale Tanzkapellen auftraten. Das Repertoire der Damenorchester reichte von der U- bis zur E-Musik. Neben ihren künstlerischen Fertigkeiten hatten die Musikerinnen jung, schlank, elegant und äußerst attraktiv zu sein, um den Geschmack des zahlungskräftigen männlichen Publikums zu befriedigen. Gleichzeitig mussten die Musikerinnen, um in diesem Unterhaltungsgenre bestehen zu können, gefestigte Persönlichkeiten sein, die über selbstbewusste künstlerische Souveränität gepaart mit einem dezenten bescheidenen weiblichen Auftreten verfügten. Letzteres war von besonderer Überlebensnotwendigkeit, um sich gegen die immer wieder aufkommenden Verdächtigungen der Prostitution zu erwehren. Ihre sittsame, unschuldige
    und elegante-dezente Erscheinung wurde auch durch ihre Kleidung unterstrichen. Oft traten die Musikerinnen in Trachten oder in langen weißen ohne raffinierten Schnitt geschneiderten Kleidern auf.
    Männliche Musiker sahen in den Damenorchestern oft eine Konkurrenz, die sie mit unlauteren Mitteln bekämpften. So unterstellten sie den Damen sittenloses und unmoralisches Verhalten, diskriminierten ihre Tätigkeiten als minderwertige künstlerische Arbeit und traten für ein Verbot von Damenkapellen ein. Doch solche Verbote konnten nicht durchgesetzt werden, denn die Damen galten als eigenes Unterhaltungsgenre mit einer besonderen Anziehungskraft, die männliche Musiker nicht aufweisen konnten. Allerdings schlug sich dies weder in der Höhe der Gagen noch in der gesellschaftlichen Anerkennung der Musikerinnen nieder. So schrieb Erni Kaufmann am 12. März 1927 aus Köln an ihre Familie: "Wir ziehen weit umher in der Welt, spielen und singen für weniges Geld. Menschen sieht in uns keiner. Zigeuner."
    Die Engagements lagen zwischen einigen Wochen und mehreren Monaten. In jeder neuen Stadt, in der die Musikerinnen auftraten, mussten sie bei der Meldebehörde vorstellig werden und ihr Führungszeugnis vorweisen. Auch kam es vor, dass sie ihren sittlich-moralischen Lebenswandel zu erklären hatten.
    Im April 1942 heiratete Erni Handke Schorsch Kaufmann. Er wurde 1945 als Soldat im Zweiten Weltkrieg getötet.

    Katharina Klafsky

    gesch. Liebermann, verw. Greve, verh. Lohse

    Opernsängerin

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    19.9.1855
    St. Johann/Ungarn

    22.9.1896
    Hamburg
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    Geboren als Tochter eines Flickschusters, fiel sie schon als Kind durch ihre besondere stimmliche Begabung auf und sang ab dem achten Lebensjahr im Kirchenchor. Eine Gesangsausbildung konnten ihre Eltern nicht bezahlen. Nach dem Tod ihrer Mutter 1870 zog Katharina Klafsky nach Wien. Ihr Wunsch war es zu singen. Da sie weder Geld hatte noch einflussreiche Menschen kannte, arbeitete sie zunächst als Kindermädchen. Ihr Dienstherr, dem ihre Begabung aufgefallen war, schickte sie 1873 zu einem Organisten, der sie nach kurzer Ausbildung an den Direktor der "Komischen Oper" in Wien empfahl, wo sie eine Anstellung als Choristin bekam. Später erfuhr sie eine Gesangsausbildung bei Mathilde Marchesi, der später bedeutendsten Gesangspädagogin des 19. Jhds. Die Ausbildungskosten wurden durch Spenden "hoher Persönlichkeiten" getragen. Zwei Jahre später brach Katharina Klafsky die Ausbildung ab. Freunde hatten ihr eingeredet, sie habe einen solchen "Schulzwang" nicht nötig. Doch schnell bereute sie diesen Schritt, denn sie fand kein Engagement als Solistin und musste weiterhin als Choristin arbeiten. Am Salzburger Stadttheater hatte sie erste kleine Erfolge. Doch wieder brach sie ab. Sie heiratete den Kaufmann Liebermann, zog mit ihm nach Leipzig, wo sie zwei Söhne gebar. Nach einiger Zeit trennte sich das Ehepaar, Katharina Klafsky nahm ein Engagement am Leipziger Stadttheater an. Dort sang sie im Chor und übernahm kleinere Rollen. Wieder stellten sich kleine Erfolge ein, so dass sie schließlich größere Aufgaben bekam. Im Oktober 1879 sang sie ihre erste große Wagner-Partie, die Venus in "Tannhäuser". Als ihr Chef, Operndirektor Angelo Neumann, im Sommer 1882 ein Tournee-Ensemble gründete, um Wagners "Ring der Nibelungen" in ganz Europa aufzuführen, nahm er auch Katharina Klafsky mit. Sie sang vornehmlich kleinere Rollen. Während einer Tournee durch Italien im Mai 1883 erkrankte sie an einer schweren Venenentzündung und an Malaria. Nach viermonatigem Krankenhausaufenthalt begann sie, obwohl noch schonungsbedürftig, aus finanziellen Gründen wieder zu arbeiten. Für die Spielzeit 1883/84 nahm sie ein Engagement bei Angelo Neumann an, der inzwischen Direktor am Bremer Stadttheater geworden war. Vorher war sie nach Leipzig gereist, um ihre Kinder abzuholen, die dort in Pflege waren. Auch in Bremen war sie nur für mittlere Rollen vorgesehen. Doch durch den Tod der Primadonna Hedwig Reicher-Kindermann und durch Misserfolge anderer Kolleginnen erhielt sie die Chance, große Partien zu singen. Ihre Leonore in Beethovens "Fidelio" wurde ein Riesenerfolg - der Durchbruch war geschafft. 1886 nahm Katharina Klafsky ein festes Engagement am Hamburger Stadttheater an und blieb hier mit Unterbrechungen bis zu ihrem Tod. 1887 heiratete sie ihren Kollegen, den Bariton Franz Greve, und bekam eine Tochter. Katharina Klafsky hatte nun große nationale und internationale Erfolge. Nach dem Tod ihres Mannes 1892, heiratete sie drei Jahre später den Kapellmeister am Hamburger Stadttheater, Otto Lohse. Im selben Jahr brach sie ihren Vertrag mit dem Stadttheater und verließ Hamburg für eine ausgedehnte Tournee durch die USA, wo sie in über 20 Städten erfolgreich auftrat. Nach ihrer Rückkehr vereinbarte sie mit dem Stadttheater, einen Teil der Saison in Hamburg, den anderen in den USA zu verbringen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Am Abend des 11. Septembers 1896, als sie die Leonore im "Fidelio" gesungen hatte, bekam sie heftige Beschwerden: eine Gehirngeschwulst. Sie starb an den Folgen der Operation.

    Elena Luksch-Makowsky

    (geb. Makowsky)

    Russische Malerin und Bildhauerin

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    14.11.1878
    St. Petersburg

    15.8.1967
    Hamburg
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    Elena wuchs zusammen mit ihren beiden Brüdern in glanzvollen aristokratischen Verhältnissen auf. Ihr Vater, Konstantin Makowsky war ein angesehener Maler, der darauf bestand, dass seine Kinder eine malerische Ausbildung bekamen. Im Herbst 1896 wurde Elena in der Kaiserlichen Akademie der Künste, St. Petersburg, dort in der Meisterklasse des kritischen Realisten Ilja Repin aufgenommen. Ihr zweiter Lehrer war der Bildhauer Wladimir Beklemischow. Zuerst arbeitete sie mit Ilja Konjenkow an einem großen Relief, das die Schrecken des Krieges darstellt, eine Auftragsarbeit von Johann v. Bloch. Als er ihr ein Stipendium anbot, griff sie zu und ging 1898 nach München, erhielt u. a. Malunterricht im Atelier von Anton Azbè. In selben Jahr lernte sie den Wiener Bildhauer Richard Luksch (er schuf das im Garten der Frauen stehende Grabmal für Franziska Jahns. Luksch ist auf dem Ohlsdorfer Friedhof bei seiner zweiten Frau Ursula Falke bestattet) kennen. 1900 heiratete das Paar und ging nach Wien. Dort arbeitete Elena Luksch Makowsky ab 1901 als erste Frau mit Künstlern der Wiener Secession zusammen. Seit der Gründung der Wiener Werkstätten intensivierten beide ihre kunstgewerbliche Tätigkeit. Als Richard Luksch 1906 den Auftrag, Reliefs für die Fassade des Wiener Bürger-Theaters zu machen, aus Zeitgründen nicht ausführen konnte, gab er ihn an seine Frau weiter: In nur drei Monaten schuf sie eines ihrer Hauptwerke: drei große Melpomene-Reliefs, die sich heute im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe befinden. 1907 zog das Ehepaar mit seinen damals zwei Söhnen nach Hamburg, weil Richard Luksch eine Professur an der Hamburger Kunstgewerbeschule bekommen hatte. Elena Luksch Makowsky beschäftigte sich weiter mit dem volkstümlichen Leben ihrer Heimat. Es entstanden mehrere Reihen Volks-Bilderbogen. Als sie 1910 von Fritz Schumacher den Auftrag erhielt, ein Werk für den Hamburger Stadtpark zu gestalten, arbeitete sie eine Fayenceplastik, die sie "Ein Frauenschicksal" nannte: eine sitzende Frau, die den Kopf der künstlerischen Inspiration in Gestalt eines Kuckucks zuwendet, der auf ihrer Schulter sitzt, während drei Kinder - 1911 war Elenas dritter Sohn geboren - vorsichtig aus dem Schutz der herabfließenden Gewänder der Mutter herausblicken. Die Arm- und Handbewegungen der Frau gehen vom Kuckuck aus und zu ihm zurück und trennen schroff die beiden Welten voneinander. Fritz Schumacher beschrieb sehr einfühlsam: "Durch diese Kinder ist die Frau fest am Boden gebunden, sie kann nicht schreiten, wohin sie will, sie kann sich nicht bewegen, wie sie mag, (…). Ihr Haupt aber kann sich frei bewegen. Oben im Geistigen ahnen wir noch eine zweite Welt. Sie lauscht dem Vogel mit einer Gebärde voll entsagungsvoller Sehnsucht." Mit der Plastik "Frauenschicksal", das 1926 im Stadtpark aufgestellt wurde, endete 1912 ihre künstlerisch produktivste Zeit. "War es das Frauenschicksal, war es die fehlende Inspiration durch den Wiener Künstlerkreis, war es die zunehmende Entfernung von der russischen Heimat, die dazu führten, dass die künstlerische Spannkraft nachließ?" fragte Helmut Leppien in einem von ihm verfassten Beitrag über die Künstlerin. Es scheinen alle von Leppin genannten Motive Bestandteile dessen zu sein, was Elena Luksch Majowski "Frauenschicksal" nannte, und was sich auch heute noch oftmals als Frauenschicksal entpuppt. Noch immer ist es zumeist die Frau, die ihren Ort verlässt, sich den beruflichen Gegebenheiten des Mannes anpasst und für die Familie verantwortlich ist. Schon den Umzug nach Wien schloss Elena in ihr "Schicksal" ein. In Hamburg verschärften sich die Bedingungen nur noch. Die Familie war größer geworden - und erforderte mehr Zeit und Kraft. Die Kaufmannsstadt Hamburg und der Kreis um Richard und Ida Dehmel, dem das Paar angehörte, konnten ihr weder die Heimat und ihre Menschen noch die künstlerischen Anregungen ersetzen. Zudem wandte sich Richard Luksch einer anderen Frau zu. 1921 trennte sich das Ehepaar. Und auch die wirtschaftliche Lage während, zwischen und nach den beiden Weltkriegen war für Kunstschaffende sehr schwer. Weitere Werke von Elena Luksch Makowsky waren z. B. 1926 der Entwurf für die Senatsplakette "Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes" und die Gestaltung zweier Brunnen für die Meerweinschule (1930). Die Künstlerin gab privaten Kunstunterricht, übernahm private Portraitaufträge, fertigte Portraitbüsten, und beteiligte sich bis 1965 an verschiedenen Ausstellungen. Das Motiv auf ihrem Grabstein ist Elena Luksch Makowskys dreiteiliger Lithographie-Serie zum Thema: "Der Krieg" entnommen.

    Wilhelmine Marstrand

    (Antonia Josefina)

    Pianistin und Pädagogin

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    7.8.1843
    Donaueschingen

    16.8.1903
    Spiez am Thuner See
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      Auf einer Stele aus schwarzem Granit, an deren oberem Teil ein Bronzerelief mit musizierenden Engeln befestigt ist, befindet sich im unteren Teil die Widmung: Der begeisterten Künstlerin, Der treuen Collegin, Der unvergesslichen Lehrerin, Der geliebten Freundin, zu ehrendem Gedächtnis Was schon die Inschrift auf dem Grabstein vermuten lässt: Wilhelmine Marstrand war eine außerordentlich beliebte und geschätzte Frau. Zur Einweihung des von den Freunden gestifteten Monuments hatten sich trotz schlechten Wetters etwa 200 Personen auf dem Ohlsdorfer Friedhof eingefunden, um die Pianistin und Lehrerin zu ehren. Wilhelmine Marstrand, Tochter des fürstlichen Hofgärtners Peter Marstrand und seiner Frau Antonie Theresia Bernardina geb. Pech erhielt schon sehr früh ausgezeichneten Musikunterricht, so durch den fürstlich-fürstenbergischen Kammermusiker Nepomuk Wagner und ihren Taufpaten, den Violoncellisten Leopold Böhm. Nachdem die Familie 1855 nach Konstanz gezogen war, erhielt Wilhelmine von dem Musikdirektor und Organisten Carl Ferdinand Schmalholz Unterricht. Im Alter von 16 Jahren, 1859, trat sie in das neu gegründete Stuttgarter Konservatorium ein. Sie gab erfolgreich Konzerte in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Dresden und im Leipziger Gewandhaus. 1867 verlobte sie sich in München mit dem Historienmaler Horace Jantzen. Zu einer Heirat kam es nicht. Ein Jahr später zog sie nach Hamburg, wo sie zusammen mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Maria, die ebenfalls Pianistin war, am Mittelweg 45 wohnte. In Hamburg führte sie sich unter großem Beifall von Publikum und Presse mit Johann Nepomuk Hummels a-moll-Konzert in der Philharmonie ein. Im Laufe der Zeit verlegte sie den Schwerpunkt ihrer Arbeit jedoch immer mehr aufs Unterrichten. Zwischen 1877 und 1895 „war Wilhelmine Marstrand alleinige Veranstalterin von Kammermusiksoireen, zu denen sie die Mitwirkenden engagierte. Anfänglich handelte es sich dabei um Friedrich Margwege (Violoncello) und Carl Louis Bargheer (Violine), später kamen Henry Schradieck, Ottokar Kopecky (Violine), Magnus Klietz und Albert Gowa (Violoncello) hinzu. Damit prägte sie das Hamburger Musikleben als eigenständige Künstlerin, die stolz auf ihre Unabhängigkeit war: ‚Ich bitte recht sehr nicht unerwähnt zu lassen, daß ich viele Jahre selbständige Concerte gab; denn es ist für den ausübenden Künstler ein großer Unterschied ob man nur i. anderen Concerten mitwirkt oder ob man regelmäßig gut abonnierte eigene Concerte gibt, die Jahre lang einen sogenannten ‚eisernen Bestandteil‘ des hamburger Concert-Repertoires bildeten‘ (Marstrand, Aufzählung der ‚zur Aufführung gebrachten Kammermusikwerke in Hamburg‘).“ 1) 1883 wurde sie Mitglied des Lehrkörpers des Konservatoriums und arbeitete dort trotz eines schweren Leidens bis zu ihrem Tode. Die aus dem Gedächtnis zitierten Worte des Direktors des Philharmonischen Orchesters, Max Fiedler, anlässlich der Aufstellung des Grabsteins geben einen Eindruck von der Persönlichkeit und dem Wirken der Künstlerin, auch wenn sie eines gewissen Pathos nicht entbehren: „Wärmste Liebe, treueste Freundschaft, Verehrung und Dankbarkeit haben diese Gedächtnisfeier für unsere verehrte Freundin Wilhelmine Marstrand veranlasst, - solch tiefe Liebe, solch echte Freundschaft, wie sie gewiss nur selten zu finden sind. Fernstehenden müsste dies ein Beweis sein, dass die Verewigte ein ganz seltener Mensch war, dem es gegeben war, sich tief in die Herzen seiner Freunde einzuprägen. Die Näherstehenden, die Freunde und Verwandten wissen das und betrauern in der Dahingeschiedenen eine hervorragende Persönlichkeit und ausgezeichnete Künstlerin, eine Freundin, echt wie Gold, eine Schwester, wie sie idealer nicht gedacht werden kann, eine Künstlerin, die, ganz erfüllt von den Idealen ihrer Kunst, unablässig und mit nie erlahmendem Enthusiasmus daran arbeitete, ihre hohen Ziele zu erreichen. Wilhelmine Marstrand war eine vornehme Natur, ein echter Charakter von merkwürdiger Festigkeit. Ein Hin- und Herschwanken in Urteil und Meinung war ihr fremd; sie hielt treu und offen alles das hoch, was sie einmal für gut, schön und richtig erkannt hatte. Dadurch erhielt man von ihr einen wohltuenden Eindruck absoluter Zuverlässigkeit und Wahrheit. Und welche Selbständigkeit, welche Energie konnte sie entfalten, wenn es sich darum handelte, anderen eine Freude zu machen! Keine Mühe wurde gescheut, selbst noch zu einer Zeit, als sie durch körperliche Schmerzen schwer zu leiden hatte. Manches wäre nicht zustande gekommen, wenn sie sich nicht energisch und selbstlos dafür gemüht hätte. Wie sie anderen zu erfreuen, anderen zu helfen strebte, das haben nicht am wenigsten ihre Schüler erfahren. Mit nie ermüdender Fürsorge und mit heiligem Eifer arbeitete sie daran, die Fähigkeiten zu entwickeln und sie immer mehr einzuführen in die Herrlichkeit der von ihr über alles geliebten Kunst. Wie viele danken ihr und lieben sie dafür! An Pflichttreue, Gewissenhaftigkeit und segensreichem Interesse für jeden ihrer Schüler war sie ihren Kollegen ein wahres Vorbild. Was speziell das Konservatorium ihr zu danken hat, an dem sie eine lange Reihe von Jahren wirkte, lässt sich nicht mit wenigen Worten erschöpfen. Es war eine Freude mit ihr zu arbeiten; nie hat der leiseste Misston die Harmonie gestört. Neid kannte sie nicht. Sie schenkte das wärmste Interesse allen, die etwas leisteten, und mit glühendem Anteil verfolgte sie die Entwicklung junger hoffnungsvoller Talente und half ihnen, wo sie konnte. Musik war ihr Leben, hielt sie froh und verjüngte sie. Wilhelmine Marstrand war eine echte Musiker-Natur, durchdrungen von heiligem Ernst und künstlerischer Strenge gegen sich selbst. Wenn sie am Klavier saß, schienen alle körperlichen Schmerzen von ihr genommen. Was sie erdulden musste in ihrer schweren Krankheit, das weiß am besten ihre vereinsamte Schwester, deren Trauer unsagbar ist. In unserem Gedächtnis lebt sie als ein ganzer, prachtvoller Charakter. Liebende Freundschaft drängte es, ihrem Andenken auch ein äußeres Zeichen zu errichten in Gestalt dieses schönen Gedenksteines. Als Abschiedsgruß aber rufen wir der Verewigten nach: ‚Schlafe und ruhe in holden Träumen’, Träumen von den Gebilden der Kunst, angefüllt mit Klängen und Harmonien, die dich hier in Wonne versetzten, Träumen treuester Freundschaft, tiefster Dankbarkeit, Verehrung und wärmster Liebe“  2). Wilhelmine Marstrand starb während eines Erholungsaufenthaltes in Spiez am Thuner See. Text: Brita Reimers Zitat: [1] Sophie-Drinker-Institut, virtuelles Lexikon der Musikerinnenudn Musiker. www.sophie-drinker-institut.de [2] Tages-Neuigkeiten. Zeitungsauschnittsammlung. Staatsarchiv Hamburg..  

    Celly de Rheidt

    geb. Funk, verh. Seweloh

    Eine der Pionierinnen des Nackttanzes in der Neuzeit

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    25.3.1889
    Altona

    8.4.1969
    Hamburg
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    Als Anna Cäcilie Marie Funk wurde sie als Tochter der adligen Mette Maria von der Reith und des Schiffskapitäns Jürgen Diedrich Funk in Altona geboren. Unter ihrem Künstlerinnennamen Celly de Rheidt wurde sie nach dem Ersten Weltkrieg in den 1920er bekannt. Celly de Rheidt gilt als eine der ersten Nackttänzerinnen der Neuzeit. 1914 - im Todesjahr ihrer Mutter, ihr Vater war bereits durch Suizid gestorben, als Celly 15 Jahre alt war - heiratete sie den zwei Jahre älteren Kaufmann und Leutnant Alfred Seweloh. Er soll auch als Heiratsvermittler aufgetreten sein und sein Institut beworben haben mit dem Slogan: "3000 schöne Frauen suchen einen Partner". Diese Geschäftsidee brachte ihm die Verurteilung zu zwei Jahren Gefängnis wegen Kuppelei und zu fünf Jahren Ehrverlust ein. 1) Als nach dem Ersten Weltkrieg große Teile des Bürgertums nicht mehr über genügend finanzielle Mittel verfügten, um ein "standesgemäßes" Leben führen zu können, erkannte der ehemalige Leutnant Seweloh, womit Geld zu verdienen war: mit jungen schönen Frauen, die nackt tanzten. Damit war die Celly de Rheidt Tanzgruppe "geboren". Cellys Ehemann begründete 1919 die Nackttanzdarbietungen wie folgt: "unsere notleidenden Menschen, zerbrochen (….) durch den schrecklichsten aller Kriege, sind in einen düsteren Alltag hinabgesunken. Wir hoffen Schönheit in seiner reinsten und originalen Form zu bringen, (…)." 4) Laura Nickel analysiert: "In der zermürbten Gesellschaft der Nachkriegszeit mutierte der Nackttanz in den Varietés zu einem Ventil für die"‚[psychische] Depression nach dem verlorenen Krieg". Franz-Peter Kothes beurteilt diese Veränderung wie folgt: "Die Ventilfunktion des Tanzes, der Mode, der Libertinage beeinflusste das von der Zensur befreite Theater und besonders die Ausstattungsrevue. Dies hilft die epidemische Verbreitung zu erklären, die die Nudität zu Anfang der Zwanziger in der Revue fand."" 5) Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts war es zu ersten Nackttanz-Darstellungen gekommen. Auf "Schönheitsabenden", meist vor geschlossener Gesellschaft, präsentierten sich Frauen entweder in Ganzkörpertrikots, die Nacktheit vortäuschen sollte, aber auch nackt mit z. B. Schleiertänzen, einem ausgewähltem, meist männlichen zahlendem Publikum. 2) Auch Celly de Rheidt trat zuerst bei "Schönheitsabenden" auf, die zu Anfang "privat in der Wohnung des Verlegers Wilhelm Borngräber statt[fanden]. Unter das Publikum mischten sich weibliche Prostituierte, die sich den von der Nacktheit erregten männlichen Zuschauer im Anschluss an die Vorstellungen anboten. "[...] später jedoch konnten die Privatveranstaltungen nicht mehr mit den Reizen der Prostitution mithalten: Dort [in einem Bordell] konnte der Kunde "mehr" zu einem besseren Preis bekommen."" 3) Celly de Rheidts Tanzgruppe bestand aus rund fünf 14 bis 20jährigen jungen Frauen, die nur von Schleiern verhüllt, z. B. griechische Friese nachstellten und wurde von Celly de Rheidt selbst geleitet. Skrupel wegen der Minderjährigkeit einiger Tänzerinnen hatte man nicht. Den Conférencier bei diesen Darbietungen, die in Revuetheatern vorgeführt wurden, machte Cellys Ehemann Alfred Seweloh. 1920 konnte Celly de Rheidt für eine Saison über eine eigene Bühne in der Berliner Motzstraße verfügen. Ein Jahr später trat Celly de Rheidts Tanzgruppe im legendären Nelson-Theater am Kurfürstendamm 217 auf. "Das Grundkonzept", so Michael Brettin in seinem Artikel "Die nackte Wahrheit über Berlin. "Babylon Berlin" wie es wirklich war", "ist an allen drei großen Revuetheatern gleich: eingängige Tanz- und Gesangsnummern, ein paar Sketche und ein paar Stars, viel Exotik und Erotik. Dass es ein großes Publikum für Erotik auf der Bühne gibt, weiß die Branche seit den überraschend erfolgreichen Auftritten des Celly-de-Rheidt-Balletts im Nelson-Theater 1921. Rudolf Nelson, der an seinem Haus an der Ecke Kurfürstendamm/Fasanenstraße nur anspruchsvolles Kabarett macht, hatte sich [von Celly de Rheidts Ehemann] überreden lassen, in der spielfreien Sommerzeit die Bühne der ersten Nackttanztruppe der Republik zu überlassen." 6) Die Tänzerinnen verfügten über keine professionelle Tanzausbildung. Meist boten sie kurze Pantomimen, die z. B. "Der Vampir", "Salome" oder "Opiumrausch" hießen. Für diese Darbietungen gab es ein zahlungskräftiges, meist männliches Publikum. Deshalb konnten auch hohe Eintrittspreise genommen werden. "Das männliche Publikum wollte einiges mehr zu sehen bekommen, als im täglichen bürgerlichen Umfeld erlaubt war. (…)." 7) Bettina Müller schreibt in ihrem Artikel "Die Anziehung der Ausgezogenen", veröffentlicht in der taz vom 9.3.2019: "Die Meinungen über die Nackttänzerin divergieren, entweder liebt man oder man verachtet sie. Einige wollen dennoch einen künstlerischen Anspruch ihrer Tänze erkennen, wie etwa Hanna Berger (selbst Tänzerin) in einem Zeitschriftenartikel schrieb: "Der Körper, der im wahrsten Sinne des Wortes entfesselt wird, bewegt sich ungehemmt in große räumlicher Entbundenheit." Das ist moderne Tanzkunst mit Tendenz zum Expressionismus, der von Künstlern wie zum Beispiel Josef Fenneker auch für die Werbeplakate der Tanzveranstaltungen in Varietés und Kabaretts aufgegriffen wird. Diese Form des für viele allzu freien Tanzes trifft jedoch oft auf Unverständnis. Manche Kritiker werden daher schnell beleidigend. Celly de Rheidt habe "zu viel Speck auf den Rippen", sei nicht besonders schön und eigentlich auch zu alt, somit dürfe sie auch nicht tanzen, so wie sie eben tanzt, urteilt Stefan Großmann im Tage-Buch gnadenlos. Und auch Herwarth Walden resümiert in seinem Buch "Der Sturm" kurz und knapp: "Jedenfalls kann sie nicht tanzen." Ganz Gemeine verwenden gelegentlich das Wort "Hopserei". Das Publikum entscheidet jedoch Abend für Abend, ob es für die "hopsende" Hüllenlose zum Geldbeutel greifen will oder eben nicht. "Frau Celly tanzt, laßt sie doch ruhig tanzen, wo alle Welt sich heut im Tanze wiegt", dichtet 1921 ein verständnisvoller Josef Wiener-Braunsberg in der ULK, der satirischen Beilage des Berliner Tageblatts, über die umstrittene Künstlerin." 8) Doch "trotz der neuen Gesetzeslage, in der Nacktheit nicht per se als obszön galt, sondern unter bestimmten künstlerisch motivierten Umständen gestattet war, konnten Künstlerinnen und Künstler für ihre Auftritte wegen Anstößigkeit oder Blasphemie vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Rheidt und Seveloh, die ihre Tanztruppe nicht aus künstlerischen Überlegungen gründeten, bemühten sich zwar um Legitimierungsstrategien, blieben aber von regelmäßigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, Zensurauflagen und hohen Strafzahlungen nicht verschont. Ein initiiertes Strafverfahren gegen Celly de Rheidt und ihren Mann Alfred Seveloh im Jahre 1922 mündete in einer Bußgeldauflage von 37.000 Mark. Dichter, Kabarettisten und Schriftsteller nahmen öffentliche Machtkämpfe [um Moral, Körperkultur und Geschlechterrollen] wie diesen zum Anlass für satirische Texte. Der Revuedichter Marcellus Schiffer beispielsweise schrieb eine Parodie auf die Skandale um das Celly de Rheidt Ballett, in der es im Refrain lautet: "Komm Se rein, komm Se rein, komm Se rein, komm Se rein in die gute Stube! Wir wollen alle gerne nackend sein, ob Mann, ob Weib, ob Mannweib oder Bube! Und schimpft auch die Frau Staatsanwalt, `ne Ziege mies und alt, auf unsre Celly de Rheidt! Nur Neid! Nur Neid! Nur Neid!"" 9) Nach dem Strafverfahren durfte Celly de Rheidts Tanzgruppe nur von der Polizei kontrolliert weiter tanzen. Die Brüste und Hüften hatten bedeckt zu sein; wenn nicht, dann würde die Truppe aus Berlin verwiesen werden. Diese polizeilichen Auflagen führten zu einem Besucherrückgang. Auch die Postkarten, auf denen nackte Tänzerinnen aus Celly de Rheidts Ballett abgebildet waren, galten in Augen der polizeilichen Obrigkeit als obszön, da sie keine künstlerische Nacktheit für ein bürgerlich wohlerzogenes Publikum präsentierten, sondern vermeintlich derbe Nacktheit, wie sie angeblich ungebildete Zuschauer der Unterschichten schätzten. "Die Tänze einer Celly de Rheidt oder Anita Berber schwankten im Urteil ständig zwischen 'unsittlicher' Varieté-Nummer und künstlerischer Sensation. (…) Anita Berber, Isadora Duncan, Celly de Rheidt und andere Avantgarde-Tänzerinnen leisteten zu ihren jeweiligen Lebzeiten große Pionierarbeit in der Loslösung des Tanzes von der 'schematischen Körperlichkeit und dem Bewegungskanon romantischer Balletttradition' und verhalfen somit der (Tanz-) Kunst zu einer Rückführung in die Lebenspraxis." 11) 1922 trennte sich Celly de Rheidt von ihrem Ehemann. Das Ehepaar stritt sich um den Namen der Tanzgruppe, die sich aber auch trennte. Später trat Celly de Rheidt u. a. in Leipzig mit einem lesbischen Vampirtanz auf. 1924 heiratete sie Moritz Rosner, Direktor des Ronacher-Theaters in Wien. 1925 trat sie auch in der Scala am Hamburger Schulterblatt auf unter der Ankündigung "Celly de Rheidt in ihren naturalistischen Tanzschöpfungen". Wenig später endete ihre Karriere. Frauen waren zwar Pionierinnen in diesen Grenz auflösenden Theaterformen, aber sie gehörten nicht zu den Profiteurinnen. Denn die Besitzer der Theater oder Regisseure der Shows in den folgenden Jahren waren in der Regel Männer. Zu ihnen zählte z. B. Erik Charell, der auch mit Celly de Rheidt gemeinsam aufgetreten war, so z. B. 1920 in einer Tanzrevue im Ufa Palast am Zoo in Berlin. Text: Rita Bake unter Mitarbeit von Birgit Kiupel Quellen: 1) Vgl. Bettina Müller: Die Anziehung der Ausgezogenen", veröffentlicht in der taz vom 9.3.2019. Unter: (http://www.taz.de/!5577490/) 2) zit. nach: Peter Jelavich: Berlin Cabaret. Cambridge, Massachussets 1996, S. 156. 3) Laura Nickel: BA Kunstgeschichte und Medienkulturwissenschaft 4. Fachsemester: Entblößter Körper - Entblößtes Selbst. Die Anfänge des Nackttanzes um 1900 und die Entwicklung bis zu den Auftritten Anita Berbers auf den Bühnen der Weimarer Republik. Köln 2014, S. 8. Und: Franz-Peter Kothes: Die theatralische Revue in Berlin und Wien 1900-1938. Wilhelmshaven 1977, S.69f. zit. nach. Fischer, Lothar: Anita Berber. Göttin der Nacht. Berlin 2007, S.50. Zit. nach Nickel, a. a. O., S. 8. (Universität zu Köln. Institut für Medienkultur und Theater. Basismodul 4: Formate, Genres, Gattungen Übung: Ausdruckstanz - Die Tanzkultur der 1920er Jahre Frau Dr. Hedwig Müller SS 2014) 4) ebenda. 5) Peter Jelavich: Berlin Cabaret. Cambridge, Massachussets 1996, S. 156., zit. nach Lara Nickel, a. a. O., S. 8f. 6) Michael Brettin: Die nackte Wahrheit über Berlin. "Babylon Berlin" wie es wirklich war: Eine Zeitreise in das Amüsemang der Zwanziger. In Berliner Zeitung unter: https://story.berliner-zeitung.de/der-nackte-wahnsinn/ 7) Claudia Balk: Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne, in: Brygida Ochaim, Claudia Balk; Varieté-Tänzerinnen um 1900. Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne. Frankfurt a. M. 1998, S. 22. 8) Bettina Müller, a. a. O. 9) Laura Nickel, a. a. O., S. 9. Und hier auch: Bendow/Schiffer: Der kleine Bendow ist vom Himmel gefallen. Berlin 1923, S. 36f. zit. nach Fischer: Anita Berber. Göttin der Nacht, S.46., zit. nach: Laura Nickel, a. a. O.,. S.9 10) Lara Nickel, a. a. O., S. 14.

    Lola Rogge

    Tanzpädagogin, Choreographin, Tänzerin

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    20.3.1908
    Hamburg

    13.1.1990
    Hamburg
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      Sichtbarer als ihre Grabstätte manifestiert sich Lola Rogges Leben und Werk in den Gebäuden ihrer Tanzschule in der Tesdorpfstraße 13, auf dem der Namenszug „Lola Rogge Schule“ prangt, und im Hirschpark in Blankenese. Dass Lola Rogge eine tänzerische Laufbahn einschlagen würde, stand keineswegs von Anfang an fest. Widerstände der Eltern waren zu überwinden, die ihre Tochter in dem für Frauen anerkannten Beruf der Fürsorgerin sahen, und später, während der Ausbildung, Selbstzweifel: Zweifel an der eigenen Begabung und körperlichen Belastbarkeit. Doch ihr kämpferisches und zielstrebiges Naturell ließen sie alle diese Schwierigkeiten überwinden und den Namen Lola Rogge weit über Hamburgs Grenzen hinaus bekannt machen. Begonnen hatte für die Tochter des Stadtbaumeister in Altona, des Architekten Hans Rudolf Rogge, und seiner Ehefrau Christiane geb. Schönfelder, alles, als sie aufgrund ihres zarten Gesundheitszustandes 1920 aus dem Lyzeum in der Altonaer Chaussee, das sie seit 1914 besuchte, in die jüdische Privatschule von Alice Blömendal umgeschult wurde, wo statt des ihr aus gesundheitlichen Gründen untersagten Sportunterrichts rhythmische und tänzerische Gymnastik auf dem Lehrplan stand. Das junge Mädchen war sofort Feuer und Flamme, gern hätte sie auch außerhalb der Schule Tanzunterricht genommen, doch die Eltern waren strikt dagegen. Erst ein Tanzsolo in einer Schulaufführung nach Gedichten aus Goethes „West-östlichem Divan“, die Fürsprache einer Lehrerin, die mit Lola und ihren Freundinnen eine Tanzszene in einem Theaterstück für den Handwerkertag in Hamburg eingeübt hatte, und vor allem ihr eigenes tägliches Insistieren führten schließlich dazu, dass die Mutter sich bereit erklärte, an einer Unterrichtsstunde in der Tanzschule des Ungarn Rudolf von Laban zu hospitieren. Der Anblick halb nackter, schwitzender Männer ließ sie entsetzt zurückschrecken. Doch die Tochter gab nicht nach, und beim zweiten Besuch hatte sie Glück. Die feinfühlige Jenny Gertz, die dieses Mal den Unterricht erteilte, begriff die Situation und richtete es so ein, dass keine exzessiven Bewegungen bei den Übungen vorkamen. Lola Rogge hatte es geschafft: Auch wenn die Eltern sich niemals mit der Künstlerlaufbahn ihrer Tochter abfanden, willigten sie in ihre Wünsche ein. 1925 begann Lola Rogge ihre Ausbildung an der Schule „Hamburger Bewegungschöre Rudolf von Laban“, die zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr von Laban selbst, sondern von seinem ehemaligen Assistenten, dem gebürtigen Hamburger Albrecht Knust, im Sinne der Ideen Labans geleitet wurde. Labans Bewegungslehre basierte auf der Überzeugung, dass das gesamte Sein seinen Ursprung im Tanz habe. Daraus ergaben sich alle weiteren Einsichten, dass nämlich in jedem Menschen ein Tänzer stecke, der Gruppentanz die eigentliche adäquate Form und die zwecklose Freude der Tänzerinnen und Tänzer im gemeinsamen Erleben die Zielsetzung des Tanzes sei. Vor diesem Hintergrund ist es auch verständlich, dass Labans Interesse nicht nur der Ausbildung von Profis, sondern vor allem auch der von tanzbegeisterten Laien galt. Aus der Arbeit mit ihnen gingen die Bewegungschöre hervor, deren Übungsstunden zum Pflichtprogramm der Ausbildungsschüler und –schülerinnen gehörten. Die Lehre Labans musste bei Lola Rogge, die einen besonderen Sinn für Humanität und Toleranz besaß, auf fruchtbaren Boden fallen, auch wenn sie den Schwerpunkt in ihrem eigenen Unterricht später etwas verlagerte. Während es Laban primär um das gesteigerte Ich-Erlebnis in der Gemeinschaft ging, darum, den Menschen aus der Gemeinschaft heraus zu tragen, legte Lola Rogge Wert auf die Durchbildung des Körpers, auf technisches Können. Aus dem Gefühl heraus, selbst keine ausreichende Technik gelernt zu haben, nahm sie nach Abschluss ihrer Ausbildung am Laban-Institut klassischen Tanzunterricht bei OLga Brandt-Knack (ihr Grabstein steht im Garten der Frauen), der damaligen Ballettmeisterin und Choreographin des Hamburger Stadttheaters. Eine Karriere als Solotänzerin kam für Lola Rogge trotz einer Anfrage aus Braunschweig nicht in Frage. Sie blieb nach ihrem Examen im Jahre 1927 als Assistentin Albrecht Knusts an ihrer Ausbildungsstätte tätig und gründete eine eigene Schule in Altona, die „Altonaer Labanschule Lola Rogge“, wo sie die ersten Kinderbewegungschöre ins Leben rief. Neben den Kindergruppen kam auf Initiative von Frau Bucerius, der Mutter des ehemaligen Herausgebers der „Zeit“, zunächst ein Kurs zustande, den Lola Rogge scherzhaft ihren Crêpe-de-Chine-Kurs nannte. Da sie ihren Beruf nicht nur als künstlerisch-pädagogische, sondern auch als soziale Aufgabe betrachtete, versuchte sie, Menschen aus allen Schichten zu gewinnen – mit Erfolg. Um für ihre Schüler mit geringem Einkommen den Beitrag erschwinglich zu halten, gründete sie den „Altonaer Bewegungschöre e.V.“. Als eingetragenem Verein standen ihm Turnhallen als Trainingsräume zu günstigen Konditionen zur Verfügung. 1931 erweiterte sich ihr Schülerkreis noch einmal erheblich, als sie Gymnastikunterricht über den Rundfunk erteilte. Im Frühjahr 1934 war Lola Rogge vor eine große Entscheidung gestellt: Albrecht Knust ging nach Essen an die Folkwangschule und bot ihr die Übernahme der Laban-Schule am Schwanenwik an. Sie war inzwischen nicht mehr allein, denn sie hatte 1931den Hamburger Kaufmann Hans Meyer geheiratet, der nach der Eheschließung den Namen seiner Frau als Doppelnamen angenommen hatte, eine auch für heutige Verhältnisse ungewöhnliche Entscheidung, die viel über das Verhältnis des Paares aussagt. Hans Meyer hatte zunächst Pianist werden wollen, schlug aber dann, als sein Vater starb und er für seinen eigenen Lebensunterhalt und den der Mutter sorgen musste, eine kaufmännische Laufbahn ein. Als er Ende der zwanziger Jahre mit Einbruch der Weltwirtschaftskrise wie viele andere arbeitslos wurde, besann er sich auf seine musikalische Begabung und wurde zum Begleiter und Berater seiner damaligen Freundin und späteren Ehefrau. Er saß während ihres Unterrichts am Klavier und half ihr bei der Musikauswahl für ihre kleinen Choreographien. Später, bei den großen chorischen Tanzwerken, wurde er zu einem wichtigen musikalischen und dramaturgischen Mitarbeiter, der die Musik und den Stoff auswählte und die dramaturgische Konzeption der Choreographie entwarf. Doch waren beide sich stets bewusst, dass sie die begabtere von ihnen war. Ihren „Prinzgemahl“ nannte sie ihn dann auch. Dieser übernahm allerdings eine sehr zentrale Funktion, als das Ehepaar sich entschloss, das Angebot Knusts und Labans anzunehmen und die Schule zu kaufen. Hans Meyer-Rogge wurde quasi zum geschäftsführenden Direktor des Instituts, der sich um alle finanziellen und organisatorischen Belange kümmerte. Schon ein Jahr vor der Übernahme der Tanzschule hatte sich Lola Rogge nach ersten kleinen Erfolgen als Choreographin an ein abendfüllendes Programm auf eigene Verantwortung und Kosten gewagt. „Thyll“ hieß das Tanzschauspiel, das auf dem Ulenspiegel-Roman des belgischen Dichters Charles de Coster basierte und für das der Hamburger Komponist Claus-Eberhard Clausius nach Lola Rogges choreographischen Vorgaben die Musik schrieb. Es sollte im Altonaer Stadttheater von den Laien der Bewegungschöre und dem Sprech- und Bewegungschor der SPD getanzt werden. Doch kurz vor der Premiere wurde von den nationalsozialistischen Machthabern zur Auflage gemacht, den SPD-Chor zu streichen. Lola Rogge kam dieser Aufforderung nach, um die Aufführung nicht zu gefährden. Die Hauptrolle des Stückes tanzte sie selbst, ebenso wie in ihrem nächsten großen Werk, den „Amazonen“, das sie 1935 mit ihren Bewegungschören im Deutschen Schauspielhaus uraufführte. Das Stück war so erfolgreich, dass es 1935 im Rahmen der deutschen Tanzfestspiel in Berlin gezeigt wurde und 1936 zusammen mit dem Weihespiel Labans „Vom Tauwind und der neuen Freude“ für die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele gedacht war. Bei der Generalprobe entschied Goebbels sich jedoch anders. Über Labans chorisches Werk, das sich zunächst so mühelos in die nationalsozialistische Ideologie zu fügen schien, notierte er in seinem Tagebuch. „Das ist alles so intellektuell. Ich mag das nicht. Geht in unserem Gewande daher und hat gar nichts mit uns zu tun“ 1). Als Laban Deutschland 1937 verließ, musste sein Name aus den Titeln aller Labanschulen gestrichen werden. Lola Rogge führte ihre Schule unter der Bezeichnung „Lola-Rogge-Schule“ weiter. Die Geschichte der Amazonenkönigin Penthesilea war als erster Teil einer Trilogie geplant, die aber wegen des Kriegsausbruchs nicht mehr vollendet werden konnte. 1939 wurde lediglich noch der zweite Teil, „Mädcheninsel“, im Schauspielhaus uraufgeführt. Das Tanzspiel erzählt die Sage des jungen Achill, den seine Mutter Thetis vor der Erfüllung des Orakelspruchs zu schützen sucht. Lola Rogge tanzte den Achill. Die Entscheidung für die antiken Stoffe basierte auf der Liebe Hans Meyer-Rogges zur griechischen Mythologie. Zudem waren Figuren wie Penthesilea und Achill der knabenhaften Lola Rogge mit ihrer herben und kraftvollen Ausstrahlung wie auf den Leib geschrieben. Die Aufführungen waren dann auch ein solcher Erfolg, dass der damalige Intendant des Schauspielhauses, Karl Wüstenhagen, Lola Rogge gleich nach der Premiere der „Amazonen“ einen Vertrag als Bewegungsregisseurin anbot. Über 20 Jahre, bis zum Ende der Spielzeit 1958/59, arbeitete Lola Rogge neben all ihren anderen Verpflichtungen auch noch am Schauspielhaus. Das Ende des Krieges erlebte Lola Rogge in Stade, wohin sie nach den schweren Bombenangriffen auf Hamburg im Sommer 1943 geflüchtet war. 1945 kehrte sie nach Hamburg zurück und erhielt von der englischen Besatzungsmacht sofort die nötige Unterrichts- und Auftrittsgenehmigung. Die Tanzschule war bereits 1938 in das Haus Tesdorpfstraße 13 verlegt worden, das das Ehepaar erwarb, als ihm der Mietvertrag für das Haus am Schwanenwik, in dem sich die Tanzschule Laban bis dahin befand, gekündigt wurde. Hier in der Tesdorpfstraße wohnte die Familie auch. Die Zusammenlegung von Wohnung und Arbeitsstätte erleichterte manches, besonders die Betreuung der Kinder, der 1935 geborenen Zwillinge Jan und Klaus, und der Töchter Christiane (1944) und Andrea (1948). Zudem gab es eine Hausangestellte, die von frühmorgens bis spätabends für die Kinder da war. Und doch erzählt die Tochter Christiane, heute Leiterin der Lola-Rogge-Schule, wie sie als Kinder spätabends wach in den Betten gelegen und sehnsüchtig auf die von einer Premiere heimkehrende Mutter gewartet hätten. Die gemeinsamen Wochenenden in dem 1951 gekauften Haus in Lüllau in der Heide empfindet sie als eine Art Wiedergutmachung für erlittenen Mangel. Noch heute ist für die Geschwister das Haus in der Heide enorm wichtig: „Da ist Mutter.“ Nach Kriegsende mussten die Eltern allerdings zunächst einmal den mühsamen Wiederaufbau bewerkstelligen. Wofür Lola Rogge schon immer ein Gespür gehabt hatte, für Qualität und Leistung, was sie sofort nach 1934 veranlasst hatte, die Ausbildung am Institut zu reformieren und das Niveau zu verbessern, empfand sie auch jetzt als Notwendigkeit. Wenn der moderne Tanz in Deutschland den Anschluss an das internationale Niveau nicht verpassen wollte, musste etwas geschehen. Als 1949 der schweizerische Berufsverband für Gymnastik und Tanz zum Internationalen Tänzertreffen nach Zürich einlud, fuhr Lola Rogge hin. Hier hatte sie nach vielen Jahren zum ersten Mal die Gelegenheit, wieder Lernende und nicht Lehrende zu sein. Aus der Begegnung mit der Komponistin Aleida Montijn entstand dann auch eine neue Schöpfung Lola Rogges, die sie ganz ohne die Unterstützung ihres Mannes durchführte: „ (...) die ‚Vita Nostra’ ist ein gemeinsames Kind von uns beiden“ 2), schrieb sie an die Komponistin. Die Uraufführung des auf alttestamentarischen Psalmen basierenden Werkes am 15. Mai 1950 erregte große Begeisterung. Der renommierte Ballettkritiker Christian E. Lewalter wertete das Werk, das die durchlebten Schrecken des Krieges zum Ausdruck brachte, in der „DIE ZEIT“ als einzigartiges Werk; der Tanzpublizist Kurt Peters bezeichnete die Choreographie als die bedeutendste der Nachkriegszeit. Auch das letzte große Werk, das Lola Rogge schuf, hatte einen religiösen Hintergrund und beschäftigte sich mit dem Tod: der „Lübecker Totentanz“. Er wurde in verschiedenen Kirchen Lübecks aufgeführt und stellte immer neue Anforderungen an die Choreographin, da die verschiedenen Kirchenräume ganz anders berücksichtigt werden mussten als die „Guckkastenbühne“ des Theaters. Nach dem Tod ihres Mannes am 5. September 1975 gab Lola Rogge die Leitung ihrer Schule an ihre Tochter Christiane ab. Die Ausbildung für Tänzer hatte sie bereits 1969 aufgegeben. Die Tanzabteilungen der Hochschulen konnten schon aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten dafür inzwischen ein besseres Niveau garantieren als eine Privatschule. Lola Rogge konzentrierte sich ganz auf ihr Lieblingskind, den Laientanz. Darin war sie so erfolgreich, dass sie 1972 eine Zweigstelle in dem klassizistischen Gebäude im Hirschpark in Blankenese einrichtete. Bis zu ihrem Tode am 13. Januar 1990 leitete sie einen Laienkurs. Text: Brita Reimers Zitate: [1] zitiert nach: Nils Jockel, Patricia Stöckermann: „Flugkraft in goldene Ferne ...“ Bühnentanz in Hamburg seit 1900. Hamburg 1989. [2] Patricia Stöckemann: Lola Rogge. Pädagogin und Choreographin des Freien Tanzes. Wilhelmshaven 1991.    

    Emmi Ruben

    (geb. Geister)

    Mäzenin, Namensgeberin für Emmi-Ruben-Weg, benannt 2016 im Bezirk Harburg, im Stadtteil Hausbruch

    Ornament Image
    7.2.1875
    Hamburg

    4.6.1955
    Hamburg
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    „Zu allererst sei Ihnen mein herzlichster Dank gesagt. – Sie haben ja soviel mit den Künstlern gelebt um richtig einen solchen Dank zu verstehen. Es ist ja nicht allein das Geld gewesen in dieser Zeit, sondern auch das Gefühl damit ausgedrückt, dass Sie dahinter stehn und gerade letzteres ist in den vielen leeren Stunden im Atelier ein tröstliches Bewusstsein gewesen –”,( Mappe „Nachlass Ruben“. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky. Handschriftenabteilung.) schreibt der Maler Willem Grimm am 12.6.1937 an Emmi Ruben und bringt damit auf den Punkt, was diese Frau für die künstlerische Avantgarde in Hamburg bedeutete. In einer Zeit, in der die Hamburger Sezession sich unter dem Druck des Nationalsozialismus auflöste, die Bilder vieler Künstler als entartet galten und aus den Museen entfernt wurden, war eine Mäzenin, die sich von all dem nicht beeindrucken ließ, eine Hoffnungsträgerin für die Kunst, die Künstler und Künstlerinnen. Mit dem Ankauf von Bildern half sie nicht nur finanziell, sondern stärkte die Künstler auch in ihrem Selbstbewusstsein. Und der Nachwelt erhielt sie manches Werk, das ohne sie vermutlich verloren wäre. Emmi Ruben wurde am 7. Februar 1875 geboren. 1897 heiratete sie Albert Ruben, einen Kaufmann jüdischer Abstammung. Neben seiner beruflichen Tätigkeit, zunächst als leitender Angestellter, dann als Teilhaber der Firma Blumenfeld, einem Kohlenimporthandel mit eigenen Schiffen, war Albert Ruben im Hamburger Kulturleben sehr aktiv. Als Mitbegründer der Literarischen Gesellschaft knüpfte er Kontakte zu Gerhart Hauptmann, Richard Dehmel und Detlev von Liliencron, hielt selbst Vorträge für die Arbeiterjugend in der Kunsthalle und unterstützte die Arbeit von Künstlern. So warb er beispielsweise bei seinen Geschäftsfreunden um finanzielle Unterstützung von Projekten und brachte den Maler Ivo Hauptmann in der Firma Blumenfeld unter, der daraufhin von seinen Freunden zum „bestmalenden Kohlenhändler“ ernannt wurde. Emmi Ruben war in dieser Zeit wohl eher „die Frau an seiner Seite“, versorgte den Haushalt und die zwei Kinder (Elisabeth, geb. am 17.7.1898 und Walther, geb. am 26.12.1899, eine weitere Tochter verstarb im Alter von einem Jahr), denn nahezu alle in der Staats- und Universitätsbibliothek befindlichen Briefe von Künstlern sind zu Albert Rubens Lebzeiten an ihn gerichtet. Nach seinem Tod im Jahre 1926 wurde Emmi Ruben selbst aktiv, wobei ihr Interesse in erster Linie der bildenden Kunst galt. 1948 schenkte sie ihre umfangreiche Sammlung von 146 Exponaten, darunter 17 Gemälde, der Hamburger Kunsthalle. Alle wichtigen Hamburger Künstlerinnen und Künstler der damaligen Zeit sind darin vertreten: Friedrich Ahlers-Hestermann, Karl Ballmer, Alma del Banco, Eduard Bargheer, Paul Bollmann, Arnold Fiedler, Fritz Flinte, Fritz Friedrichs, Willem Grimm, Richard Haizmann, Erich Hartmann, Ivo Hauptmann, Eduard Hopf, Paul Kayser, Karl Kluth, Fritz Kronenberg, Kurt Löwengrad, Emil Maetzel, Wilhelm Mann, Rolf Nesch, Franz Nölken, Alexandra Povòrina, Anita Rée, Hans Ruwoldt, Walter Siebelist, Herbert Spangenberg, Heinrich Stegemann, Walter Tanck, Maria Wenz, Albert Woebcke. Gretchen Wohlwill (siehe: historischer Grabstein im Garten der Frauen), Gustav Wolff. „Es ist mein Wunsch“, schrieb sie an Carl Georg Heise, den damaligen Direktor der Hamburger Kunsthalle „dass diese Bilder, die das Ergebnis meiner langjährigen Sammlertätigkeit darstellen, in den Besitz der Kunsthalle meiner Vaterstadt übergehen, um meinen Mitbürgern einen bleibenden Eindruck von einer Epoche hamburgischer Malerei zu geben. Mit der Aufstellung dieser Bilder in der Kunsthalle möchte ich zugleich dazu beitragen, das Andenken an die Künstler, die mir freundschaftlich nahegestanden haben, in Hamburg zu erhalten“ (Unveröffentlichter Brief vom 24. Mai 1948. Hamburger Kunsthalle.) Die Briefe, die ihr Mann und sie von Künstlerinnen und Künstlern erhalten hatten, übergab sie der Staats- und Universitätsbibliothek: „Nachlass Ruben (nach Auskunft von Dr. Voigt ca. 1945 von einer älteren Dame (Frau Ruben) geschenkt worden)“, steht auf der Mappe. Sie enthält neben Briefen an Albert Ruben Briefe an Emmi Ruben von Friedrich Ahlers-Hestermann, Alma del Banco, Paul Bollmann, Arnold Fiedler, Fritz Flinte, Willem Grimm, Richard Haizmann, Erich Hartmann, Ivo Hauptmann, Eduard Hopf, Martin Irwahn, Karl Kluth, Hans Leip, Kurt Löwengard, Rolf Nesch, Alexandra Povòrina, Antia Rée, Hans Ruwoldt, Karl Schmidt-Rottluff, Clara Rilke-Westendorf, Gretchen Wohlwill u.a. Sie alle unterstützte Emmi Ruben durch den Kauf ihrer Bilder, durch Mithilfe bei Ausstellungsvorbereitungen, durch Einladungen und Geschenke, ja manchmal sogar durch Bezahlung des Malmaterials, selbstgebackenen Kuchen und selbst genähte Puppenkleider für die Kinder. Erich Hartmann schreibt ihr am 26.12.1934: „Aber, aber! Kommt sie so ganz heimlich und sachlich hier an, um ihre Lithographie zu holen und ist in Wirklichkeit ein allerliebster Weihnachtsmann. Und was für einer. Ich bin wieder ganz gerührt wie gut Sie es mit uns meinen und wie Sie uns verwöhnen (…)“(Mappe „Nachlass Ruben“ a. a. O.). Und Alma del Banco: „Liebe Frau Ruben, nun schicke ich Ihnen mit Freuden die gewünschte Zeichnung, ob diese wohl Gnade vor den Augen Ihrer Kinder findet? – mir ist es ein Tagebuchblatt - es erzählt mir von den schönen Abendstunden bei Ihnen. – Ich glaube ich mache ganz gute Fortschritte, da ich ausgehen darf – das wird mir sicher gut tun – und Dank der liebevollen Fürsorge meiner Freunde – wozu ich Sie gerne rechnen möchte – für alles Gute tausend Dank“ (Mappe „Nachlass Ruben“ a. a. O.). Die Sierichstraße 132 war bis 1933 ein beliebter Künstlertreff. In ihren späteren Wohnungen am Ahornkamp und in der Binderstraße empfing Emmi Ruben die Künstlerinnen und Künstler wohl eher in kleinem Kreis. Emmi Ruben war eine Mäzenin im besten Sinne des Wortes, eine Förderin, die den Ankauf von Kunst weder als Statussymbol noch als Kapitalanlage betrachtete, sondern mit Kenntnis am Schaffensprozess der Künstler und Künstlerinnen teilnahm und als Sammlerin und Stifterin die Werke für die Nachwelt bewahrte. Sie war zugleich eine Mutterfigur, die offenbar ein großes Einfühlungsvermögen in die Existenzbedingungen der Künstlerinnen und Künstler besaß und ihnen dadurch weit mehr sein konnte als nur Geldgeberin. Hans Leip jedenfalls betont eben diese Fähigkeit, die Emmy Ruben neben ihrem Kunstverstand besaß und worin sie sich deutlich von den wohlbekannten „Gattinnen“ abhob, die sich mit Kunst schmücken: „(…) alles in allem eine der liebenswürdigsten Erscheinungen in der hanseatischen Atmosphäre vor 1933, wo sich ja manche blonde, blauäugige Ehepartnerin vorwagte und zu Kalbsbraten, Mosel und nachfolgender Lesung einlud, ohne sich allerdings weitere Unkosten zu machen bzw. den Gemahl dazu zu veranlassen. Emmi Ruben wusste um die Schwierigkeiten des schöpferischen Menschen; es war ihr nicht um die Dekoration ihrer Tafel und die Unterhaltung ihrer Gäste zu tun. Sie war aus echtem Kunstverstand und aus echter schöner Menschlichkeit hilfsbereit und helfend. Und sie besaß Takt, was so häufig eben nicht ist in unserer Welthafen-Vaterstadt (…)“ (Brief am 7.3.1963. Zitiert nach: Gerhard Kretschmann: Brief an Familie Ruben. Prüfungsarbeit der Hamburger Bibliotheksschule. 1963. Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky.) Und die Malerin Gretchen Wohlwill schreibt ihr einmal: „Für mich war das Beglückende in den vergangenen Jahren, dass Sie ‚da’ waren. Sie sind sich vielleicht selbst nicht darüber klar geworden, was das für mich bedeutet hat (…). Was Maetzel neulich sagte, war mir so aus der Seele gesprochen, dass nämlich, angenommen, die materielle Not sei eines Tages beseitigt und gemildert, so bliebe doch immer die geistige Vereinsamung der Künstler, u. ich möchte hinzufügen die seelische, das Bedürfnis nach Verständnis u. Anteilnahme“ (Mappe „Nachlass Ruben“, a. a. O.). Der zumeist distanzierte, vor allem von Dankbarkeit und Respekt gekennzeichnete Ton in den Briefen der Künstlerinnen und Künstler, der sich allein bei Karl Kluth ins sehr persönlich Freundschaftliche wendet, macht deutlich, dass Emmi Ruben ihre Position einer Mäzenin immer gewahrt, sich niemals angebiedert hat. Dass es auch Misstöne im Umgang mit den Künstlerinnen und Künstlern gab, zeigen nicht nur die Versuche der im menschlichen Umgang wohl komplizierten Anita Rée, bestehende Missverständnisse zu klären und auszuräumen. Auch der schon zitierte Brief von Gretchen Wohlwill ist vor eben diesem Hintergrund entstanden. Angegriffen fühlte Emmi Ruben sich auch, als sie sich 1933, nach der Absetzung der Vorsitzenden Ida Dehmel durch die Nationalsozialisten, entschied, der GEDOK (Gemeinschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnen) treu zu bleiben. Die Kunsthistorikerin Rosa Schapire, die selbst aus Protest aus der GEDOK ausgetreten war, schrieb ihr daraufhin: „(…) ich danke Ihnen für Ihren ausführlichen Brief und möchte Ihnen auch gleich sagen, dass ich Ihren Schritt für ganz richtig halte. Es ist sehr viel leichter alles zu zerstören als das Bestehende zu halten und weiter auszubauen. Darauf aber kommt es in der schwierigen Epoche, in der wir heute leben, an. Gerade bei Ihnen bin ich fest davon überzeugt, dass Sie sich von sachlichen Beweggründen leiten lassen und frei von Ehrgeiz sind. Die GEDOK kann in der schwierigen Zeit doch mancher Künstlerin eine Erleichterung bringen. Sie haben das Vertrauen der Künstlerinnen, sind eingearbeitet und sicherlich die geeignetste Persönlichkeit, um deren Interessen weiter zu vertreten. Es ist ein besonders glücklicher Umstand, dass diese Tätigkeit Ihren Neigungen in diesem Maße entspricht, nur dann kann freilich auch etwas Vernünftiges geschehen.“ (Brief vom 23.5.33) 1). Neben der GEDOK war Emmi Ruben Mitglied der Freunde der Kunsthalle, der Ernst-Barlach-Gesellschaft, der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, einem radikalen Zweig der bürgerlichen Frauenbewegung, der Musikalischen Jugend Deutschlands, des Künstler-Vereins und der Griffelkunst, des Tierschutz-Vereins, der Deutsch-Griechischen Gesellschaft und des Deutschen Lyceum-Clubs in Hamburg. Text: Brita Reimers

    Amelie Ruths

    Malerin der Vierlande und der Halligen

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    28.4.1871
    Hamburg

    3.4.1956
    Hamburg
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    Amelie Ruths war das zweite Kind von Johann Theobald Eduard Ruths und seiner zweiten Ehefrau Maria Amalie geb. Scherzinger. Das erste Kind, ein Sohn, war eine Woche nach der Geburt gestorben. Der 1871 geborenen Amelie folgten 1874 Therese, die bereits 1897 an einer Blinddarmentzündung starb, und jeweils ein Jahr später Rudolph und Frieda, die Lehrer bzw. Lehrerin wurden. Die Familie bewohnte ein kleines Haus in der Böttgerstraße 93 (heute wieder Heinrich-Hertz-Straße). Amelie und ihre um fünf Jahre jüngere Schwester Frieda besuchten die in der Nähe der Wohnung gelegene Höhere Töchterschule von Bonfort und Meinertz . Als der Vater 1895 starb, zog dessen Bruder, der weit über Hamburgs Grenzen hinaus bekannte Landschaftsmaler Valentin Ruths zur Familie. Amelie Ruths fand durch ihren Onkel Valentin den Weg zur Kunst. Er gab ihr etwa seit ihrem vierzehnten Lebensjahr Zeichen- und Malunterricht, drängte sie jedoch, das Zeichenlehrerinnenexamen zu machen, damit sie sich ernähren könne. Von 1886 bis 1889 besuchte Amelie die Gewerbeschule für Mädchen in der Brennerstraße und schloss die Ausbildung mit dem Zeichenlehrerinnenexamen ab. Ab 1890 arbeitete sie an verschiedenen öffentlichen und privaten Schulen ( Louise Schroeder und Marie Wolf, Laura Nemitz, Dr. H. Michow und Frau, Henriette Müller, Marie Sander und Staatliches Lyceum am Lerchenfeld). In den Schulferien machte sie mit dem Onkel Studienreisen u. a. nach Italien und Ägypten. Als er um die Jahrhundertwende anfing zu kränkeln, pflegte sie ihn bis zu seinem Tode im Jahre 1905. Im selben Jahr beschickte sie zum ersten Mal eine Ausstellung, die Frühjahrsausstellung des Hamburger Kunstvereins. Dass alle Bilder von der Jury angenommen und zwei verkauft wurden, ermutigte sie, die kleine Erbschaft, die der Onkel ihr hinterlassen hatte, für ihre weitere Ausbildung aufzuwenden. Sie nahm Unterricht im Aktmalen bei Carl Rotte, der kurz Leiter der Aktklasse an der Kunstgewerbeschule am Steintor gewesen war und lernte vier Sommer lang bei dem Belgier Henri Luyten an seiner Ecole des Beaux Arts. In Braschaet, einem kleinen Ort in der weiten Küstenlandschaft um Antwerpen, versammelte er eine internationale Schülerschaft. Hatte Amelie bei ihrem ersten Lehrer Valentin Ruths vor allem das Zeichnen gelernt, so beschäftigten sie jetzt Probleme der Freilichtmalerei: „Die ängstlich zeichnerische Kontur entschwand der durch die realistische Schule gegangenen Hamburgerin, der Pinselauftrag wurde leicht und flüssig, die Farbe zum Element der Wirkung. Dazu kam eine Reise nach Paris, das Studium des klassischen Impressionismus an der Quelle“, schreibt Karl Fischer in seinem Beitrag über Amelie Ruths in „Westermanns Monatsheften“ im Mai 1923. Trotz ihrer internationalen Ausbildung und verschiedener Reisen in den Süden blieb Amelie Ruths eine Malerin ihrer Heimat, der norddeutschen Landschaft. Sie fuhr an die Nordseeküste, auf die friesischen Inseln und in die Vierlande, wo ihre besondere Vorliebe den Vierländer Bauernhäusern galt. Anders als Marie Zacharias oder Ebba Tesdorpf (siehe zu ihr in der Rubrik: frauen auf der Erinnerungsskulptur), mit der sie nach dem Tod des Onkels eine Zeitland gemeinsam auf Motivsuche durch Hamburgs Straßen streifte, war es Amelie Ruths dabei weniger um die Rettung eines Stückes Kulturgeschichte zu tun als um Probleme der Malerei, um Licht und Farbe. Die Dielen ihrer Vierländer Bauernhäuser sind so lichtdurchflutet, dass man fast meint, es handele sich um Räume im Freien. Der Eindruck des für die Interieurmalerei so konventionellen Helldunkels findet sich bei ihr nicht mehr. Licht spielt auch eine wesentliche Rolle bei dem Gegenstand, der zu Amelie Ruths Hauptthema werden sollte: die Halligen. In ihren Notizen schreibt sie dazu: „Zwei Sommer auf Nordstrand gemalt. Dann ging ich im Mai 1920 zuerst auf die Suche nach den Halligen. Auf dem Weg erkrankte ich auf Föhr so schwer durch Ansteckung an einer Kinderkrankheit (Mumps), dass ich kaum noch nach Hause reisen konnte und monatelang zwischen Leben und Tod schwebte. Mitte Oktober setzte ich einen kurzen Besuch auf der Hallig durch. Ein orkanartiger Sturm setzte während meines kurzen Aufenthalts dort die Hallig unter Wasser. Dieses war der Anfang. Daraus entstand eines meiner besten Bilder. Seitdem blieb ich den Halligen treu. Nur selten machte ich seitdem andere Reisen und Studien-Aufenthalte“ 1). Selbst als sie so schwer krank war, dass sie vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurde, hielt sie an der Halligmalerei fest. Frau Gebhard, eine Bekannte Amelie Ruths, berichtet: „Sie war ja bis zu ihrem Tode rastlos tätig und hat uns erzählt, wie noch im letzten Jahr ihre Freundin, Frl. Minna Steinfatt, und ihre Schwester im Sturm die Staffelei festhalten mussten, damit sie überhaupt malen konnte“ 1). Von Frau Gebhard wissen wir auch, dass Amelie Ruths eine sehr warmherzige und humorvolle Frau war, die „enorm viele Freunde“ hatte und eine „sehr beliebte Gastgeberin“ war 1). Zunächst hatten die Geschwister Amelie, Frieda und Rudolph weiter in der Böttgerstraße gewohnt, wo Amelie das Atelier des Onkels übernommen hatte. Auf Dauer waren ihnen die Räumlichkeiten jedoch zu eng geworden, und so zogen die drei 1937 in ein größeres Haus in der  Erikastraße 174 mit Blick auf den Mühlenteich. Das neue Domizil konnten sie jedoch nur wenige Jahre gemeinsam genießen. Es fiel 1943 den Bomben zum Opfer. Ein Jahr später starb der Bruder. Die Schwestern verkauften das Grundstück nach dem Krieg und erhielten in dem darauf neu gebauten Zweifamilienhaus die Wohnung in der ersten Etage in Erbpacht. Hier lebten sie in enger, harmonischer Gemeinschaft miteinander. Als Amelie Ruths im Frühjahr 1956 ins Krankenhaus eingeliefert werden musste und keine Hoffnung auf Besserung bestand, nahm sich ihre Schwester diesen Umstand derart zu Herzen, dass sie einem Herzschlag erlag. Amelie Ruths hat das nicht mehr erfahren. Niemand traute sich, ihr die Wahrheit zu sagen. Man erzählte ihr, die Schwester könne sie nicht besuchen, weil sie sich den Knöchel verstaucht habe. Amelie Ruths starb knapp einen Monat nach ihrer Schwester Frieda. Amelie Ruths war seit 1910 Mitglied des Deutschen Künstlerbundes und hatte zu Lebzeiten Ausstellungen in verschiedenen Städten in Schleswig-Holstein, in Hamburg in der Kunsthandlung Commeter, im Kunstverein, im Museum für Hamburgische Geschichte und im Altonaer Museum. In den beiden letztgenannten Museen befinden sich heute Bilder von ihr, ebenso in der Kunsthalle. Der Verkauf ihrer Werke erzeugte stets zwiespältige Gefühle in Amelie Ruths. Bei aller Freude über den Erfolg war es ihr doch immer, als ginge „ein Kind von ihr fort“. Jedes Bild war für sie ein Stück erlebte Natur, das mittlerweile nicht mehr existiert: „Es gibt keine malerischen Kanten mehr, durch die Steindämme wird alles so langweilig.“ (Hamburger Freie presse vom 28.4.1951). Text: Brita Reimers Zitate: [1] Mappe Amelie Ruths im Archiv der Hamburger Kunsthalle. Zusammengestellt von Henny Wiepking. 1964.   Amelie Ruths entstammte einer bürgerlichen Familie und besuchte die Höhere Töchterschule von Helene Bonfort und Anna Meinertz. Als sie 24 Jahre alt war, starb ihr Vater und sein Bruder, der bekannte Landschaftsmaler Valentin Ruths zog zur Familie in die heutige Heinrich-Hertz-Straße. Seit etwa ihrem vierzehnten Lebensjahr hatte Amelie Ruths bei ihm Zeichen- und Malunterricht erhalten. Nun drängte er sie, das Zeichenlehrerinnenexamen zu machen, damit sie ihre Existenz sichere. Nach dem dreijährigen Besuch der Gewerbeschule für Mädchen mit dem Abschluss als Zeichenlehrerin arbeitete sie ab 1890 an verschiedenen Schulen. Als Valentin Ruths um 1900 erkrankte, pflegte sie ihn bis zu seinem Tod im Jahre 1905. Im selben Jahr beschickte sie zum ersten Mal eine Ausstellung. Der Erfolg motivierte sie und mit Hilfe der kleinen Erbschaft von ihrem Onkel erlernte sie bei dem Belgier Henri Luyten Freilichtmalerei und studierte in Paris den Impressionismus. Doch ihre Liebe galt der Nordseeküste, den Vierlanden und besonders den Halligen, die sie 1920 zuerst besuchte. In der Malerei ging es ihr um Licht und Farbe. Selbst als sie so schwer erkrankte, dass sie 1929 vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurde, hielt sie an der Halligmalerei fest. Privat lebte sie mit ihren fünf Jahre jüngeren Geschwistern Frieda und Rudolph zusammen, die beide als Lehrer/in tätig waren. 1937 zogen sie in die Erikastraße 174. 1944 starb der Bruder. Als Amelie Ruths 1956 ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, erlitt ihre Schwester einen Herzschlag. Amelie Ruths, der man davon nichts erzählte, starb einen Monat später. Bilder von Amelie Ruths befinden sich z. B. in der Kunsthalle und im hamburgmuseum. Jedes Bild war für sie ein Stück erlebte Natur, das mittlerweile nicht mehr existierte.

    Elisabeth Schucht

    geb. Krause

    Schriftstellerin, Sozialfürsorgerin in Männergefängnissen

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    3.7.1888
    Kiel

    8.10.1954
    Hamburg
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    Elisabeth Schucht war eine Romanautorin und Erzählerin. Im Munzinger Archiv heißt es über sie: "Nach dem Besuch des Lyceums bildete sie sich zunächst in Weimar zur Bildhauerin aus. Später arbeitete sie als Sozialfürsorgerin hauptsächlich in Männergefängnissen. Nach ihrer Verheiratung mit dem späteren Geheimrat Schucht im preussischen Verwaltungsdienst wandte sie sich schriftstellerischer Arbeit zu. Von ihren Werken seien erwähnt die Romane ‚Die von uns geboren' (1920) ‚Eros' Irrfahrt' (1921), ‚Die Gezeichneten' (1930), ein Niederschlag ihrer Tätigkeit im Gefängnis, auch ins Tschechische übersetzt, weiter ‚Jo liebt einen alten Mann' (1934), auch in holländischer und englischer Sprache erschienen, ‚Unica' (1936) und ‚Der Weg in eine andere Welt' (1938). Trotz körperlicher Behinderung - Elisabeth Schucht verlor anlässlich eines Verkehrsunfalles bei der Rettung eines ihrer Kinder selbst ein Bein - gelang es ihr aus eigener Kraft, große Reisen zu unternehmen, die sie fast durch die ganze Welt führten. So bereiste sie im Jahre 1935 die USA, Mexiko und Hawaii, in den Jahren 1938 und 1939." [1] Zu ihren Werken zählen auch: "Eine Frau fliegt nach Fernost", "Unter der silbernen Sichel: Eine Reise durch Pakistan", "Anette im Zwielicht". Bevor sie in Hamburg lebte, hatte sie von 1932 bis 1945 in Dresden gewohnt, wo sie mehrere Jahre dem Vorstand der Goethe-Gesellschaft angehörte. In der NS-Zeit gehörte sie keiner NS-Organisation an. Quellen 1 Vita, siehe: Munzinger Archiv www.munzinger.de

    Anna Marie Simon

    Schriftstellerin, Pseudonym: Mania Korff

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    25.6.1864
    Walsrode

    14.4.1931
    Hamburg
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    Anna Simon war die Mutter von Leonore Toepke und Ellen Simon. Geboren als Tochter des Textilkaufmanns Julius Seckel und seiner Ehefrau Helene geb. Seckelsohn erkrankte Anna im Alter von sieben Jahren schwer und musste jahrelang das Bett hüten. Unregelmäßig erhielt sie Privatunterricht. Ihre Liebe galt der Literatur. Nach ihrer Genesung wollte sie Medizin studieren, doch ihre Eltern empfanden diesen Beruf als zu anstrengend für ihre Tochter. In dieser Zeit lernte sie Georg Simon kennen. 1889 heiratete das Paar. Es unternahm viele Reisen. Auf einer dieser Reisen nach Schweden lernte Anna Simon einige Schriftsteller kennen. Durch diese angeregt begann auch sie eine schriftstellerische Laufbahn. 1897 erschien in einem Erfurter Verlag ihr erster Roman. Die Themen ihrer Romane behandelten Liebe, Leid, Krankheit, Freude und Tod. Später beschäftigte sie sich literarisch auch mit sozialen Fragen, so mit dem Leben von Arbeiterfrauen. Anna Simon veröffentlichte unter dem Pseudonym Mania Korff. Sie hatte Erfolg. 1897 trat Anna Simon mit ihrem Mann und ihren drei Kindern zum Christentum über. Nach dem Tod ihres Mannes Ende 1903, der es bis zum Landgerichtsrat gebracht hatte, schrieb Anna Simon keine größeren Werke mehr. Zunehmende gesundheitliche Probleme waren wohl die Ursache. Nach dem Ersten Weltkrieg zog sie mit ihren beiden Töchtern (der Sohn war verstorben) nach Hamburg in den Uhlenhorsterweg 30, später dann an den Andreasbrunnen 8. Recherchen Dr. Stephan Heinemann, Potsdam

    Charlotte Thiede Eisler-Rodewald

    Malerin

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    4.4.1917

    4.5.1979
    Hamburg
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    Charlotte Thiede Eisler-Rodewald verstarb im Alter von 62 Jahren an Anorexie, an einer Krankheit, die sie schon zu Lebzeiten zum langsamen Verschwinden von dieser Welt brachte. Dass sie in dieser realen Welt nicht leben konnte, zeigen ihre Zeichnungen und unterstreichen ihre Weggefährten. So schreibt ihr Neffe Roger Thiede in seinem Nachruf auf seine Tante: "Ihre Kunst war (…) anachronistisch. (…) das heißt soviel wie aus der Zeit gefallen. (…) das heißt, gar nicht voll in einer Zeit aufzugehen, sich den Glauben an etwas anderes, besseres zu bewahren. (…) fast gibt es kein Bild, keine Zeichnung, die nicht eine paradiesische Landschaft, die nicht jene anmutigen Mädchenfiguren abbilden, (…) die unserer Gegenwart, den Realitäten unserer Welt, der Industrie, dem Älterwerden krass entgegengesetzt ist. Damit ist Charlottes Künstlertum ungefähr beim Namen genannt: die fixierende Beschwörung einer Jugend, eines Mädchentums voller Schönheit und Geheimnis, einer Entrückung, einer fast sakralen Unantastbarkeit, die allen Verwertungen europäischer Lebensläufe entgegensteht. (…) Charlotte hat dieses Bild von einer mädchen-haften Existenz nicht nur gemalt, sondern auch zu leben versucht. Wer sie in ihrem Atelier besuchte, konnte oft wirklich meinen, es mit einem ihrer Geschöpfe zu tun zu haben - dem Exotismus ihrer Person entsprach ihre Leidenschaft für das Uneuropäische, für China, Indien, für Afrika und die indianischen Kulturen. Umso schlimmer traf sie die Erkenntnis, dass eben jene Kulturen der Dritten Welt einem unaufhaltsamen (…) Zerstörungsprozess ausgeliefert sind. Denn mit den Völkern sah sie sich selbst bedroht - eine letzte Zuflucht vor der Profanität unserer Gesellschaft wurde mit jedem Tag irrealer, wurde mit jeder Nachricht drastischer zerstört, die man im Fernsehen hören konnte. (…) Das übermächtige Bild einer mädchenhaften Idylle konnte der Wirklichkeit auf die Dauer doch nicht standhalten. (…) Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß Charlotte Eisler-Rodewald an solchen Konflikten gestorben ist." 1) Und auch der Publizist Erich Lüth schlug ähnliche Töne an in seinem Nachruf auf Charlotte Thiede Eisler-Rodewald: "Könnte sie noch zu uns sprechen, die wir uns ihr so ganz nahe fühlen, so würde sie, die in ihrer Selbstkritik so unbeirrbar gewesen ist, entgegen den Konventionen sagen: Dieses doch so oft grausame und unbarmherzige Leben - mein Leben - war nicht erfüllt, denn meine künstlerischen Träume sind nur zu einem viel zu kleinen Anteil gereift. Ich habe sie nicht erfüllt und ich konnte sie, so viel ich auch geschaffen habe, nicht erfüllen - denn sie wollte in ihrer fast beispiellosen Intensität mehr. Als sie noch jung war, gertenschlank, ja geradezu zerbrechlich, strahlte sie Hoffnung aus, durch die sie uns, ihre Gefährten und ihre Freunde, mitriss. Aber sie hat immer in zwei Welten gelebt, die offenbar nicht zu vereinigen waren. Das war die Welt des Aussatzes und der Barbarei, gegen die sie und Otto Rodewald sich immer wieder radikal bis an die Grenze der Selbstvernichtung, empört haben. Deshalb widmete sie sich noch bis zuletzt der Gesellschaft für bedrohte Völker. Das andere aber war die Welt ihrer schöpferischen Visionen, in denen sich alle Banalitäten des Alltags dichterisch in eine Zauberwelt verwandelten." 2) Mit 15 Jahren war Charlotte Thiede 1932 zu ihrem Lehrer und späteren Ehemann, den 25 Jahre älteren Maler und Grafiker Otto Rodewald (1891-1960) gekommen. Geprägt durch die Schrecken des Ersten Weltkrieges und die dabei erlittenen Verwundungen zog sich Rodewald mit seinen Bildern ins Märchenhafte und Symbolistische zurück. Als Charlotte Thiede Rodewalds Schülerin wurde, "war Rodewald gerade von einem mehrjährigen Aufenthalt im nordafrikanischen Sidi Boussaid (1929-1931) zurückgekehrt. Noch ganz erfüllt von jener so andersartigen Welt (…) hat Rodewald zweifellos seiner jungen Schülerin viel von dieser anderen, entrückten Welt erzählt, so wie sich auch seine Bewunderung für die ostasiatische Kunst und Geisteswelt auf seine Schülerin übertrug." 3) Denn hier trafen sich zwei verwandte Seelen: Charlotte Thiede war "aus der eigenen Gemütsstimmung heraus offenbar voll leidenschaftlicher Empfänglichkeit für die kritische Welterfahrung Rodewalds und seine Gedanken. Sie begriff, welch wesentlichen Wert, welchen Schutz die Flucht in eine imaginäre, dem Zugriff des Alltags entrückte Welt bot." 3) 1937 wurden Arbeiten von Rodewald als "entartete Kunst" von den Nazis beschlagnahmt. Ende der 1940er Jahre heirateten Rodewald und Charlotte Thiede. Für Rodewald war es die zweite Ehe. Auch nach Rodewalds Tod setzte sich Charlotte Eisler-Rodewald für das Werk ihres verstorbenen Mannes ein und erhielt darin Unterstützung durch ihren zweiten Ehemann, den Verleger George B. Eisler, ein Freund Rodewalds. Zum Gelderwerb illustrierte Charlotte Thiede Eisler-Rodewald in den 1950er Jahren Romanfortsetzungen im Hamburger Abendblatt, so z. B. die Fortsetzungsfolge "Percy ist zu jung für Dich! Aus den Briefen eines jungen Mädchens" von Marga Berck. Und sie illustrierte auch die vom Hamburger Abendblatt zwischen 1961und 1952 zur Adventszeit veröffentlichten "Märchen aus uralten Zeiten". Aber sie arbeitete zehn Jahre lang auch für die internationale Zeitschrift "scala international" und illustrierte z. B. Carl-Albert Langes Nachdichtung chinesischer Lyrik "Der Pavillon aus Porzellan". Über Charlotte Thiede Eisler-Rodewald als Person äußert ihr Neffe: "Sie war Künstlerin von Beruf, (…). Momente eines trotzigen Boheme-Lebens bestimmten ihr Bild, jene für den Normalbürger oft so verwirrende Mischung von Entsagung und Freude am Schönen - auch am ‚Luxus', der nicht den vermögenden Philistern vorbehalten sein sollte. Ihre Jugendlichkeit prägte ihr Leben und ihre Kunst." 1) Und Erich Lüth berichtet: "Dieser zarte Mensch, der von einem anderen Stern zu uns gekommen schien, hatte in seiner Feinfühligkeit, eine ungewöhnliche Kraft, im Hause an der Sierichstraße eine jeden ihrer Freunde oder Besucher entrückende Atmosphäre zu schaffen. Sie liebte die kleinen Dinge der Welt und des Lebens: Gläser, Mineralien, winzige Statuetten. Sie blieb aber auch als Surrealistin immer einer blühenden Wirklichkeit nahe." 2) Über ihr Schaffen in ihren letzten Lebensjahren resümierte Werner Timm: "Die Zeichenkunst der Charlotte Thiede erreicht am Ende ihres Lebens in einer Gruppe von Zeichnungen um 1977-78 einen letzten Höhepunkt. Hierbei handelt es sich überwiegend um reine, ideale Landschaften und Blumen Arrangements. Diese Landschaften sind menschenleer, einsam, von seltsamer Melancholie erfüllt. (…) mehrmals stößt man bei diesen Landschaften auf die Trauerweide, die mit der schwermütigen Gebärde der herabhängenden Zweige geradezu wie ein Leitmotiv oder Leitsymbol der seelischen Stimmung dieser Zeichnungen wirkt. Eine unsagbare Trauer und Einsamkeit spricht aus diesen Werken. (…) Gelegentliche Notizen der Künstlerin auf einigen Zeichnungen lassen die tiefe Verzweiflung erkennen, die hinter der noblen Gebärde der Trauer steht, die ihre Landschaftszeichnungen erfüllt. ‚Warum sie mich hassen. Meine Blumen wollen sie nicht und die Tiere' heißt es 1978 und im Todesjahr 1979 voll Resignation und Wissen um den Tod der lakonische Vermerk ‚Die Zeit ist um'." 3) Quellen: 1) Roger Thiede: Nachruf, in: Charlotte Thiede 1917-1979. Aus ihrem künstlerischen Schaffen mit einer Einführung von Werner Timm und Nachrufen von Erich Lüth und Roger Thiede. Hamburg 1980. 2) Erich Lüth: Nachruf, in: siehe unter 1) 3) Werner Timm: Zu den Zeichnungen von Charlotte Thiede, in: siehe unter 1)

    Marie Thierfeldt

    Handweberin

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    20.2.1893
    Frankenhof

    31.12.1984
    Hamburg
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    Geboren wurde Marie Thierfeldt auf dem väterlichen Hof in Frankenhof, Kreis Gumbinnen, in Ostpreußen. Sie hatte zwei Brüder und eine äItere Schwester. Ihre Mutter war bereits verstorben, als im Ersten Weltkrieg das Elternhaus zerstört wurde. Den Auftrag für den Wiederaufbau des Hauses bekam der damals noch junge und unbekannte Architekt Hans Scharoun. Er, der später ein bedeutender Architekt wurde, war es, der Marie Thierfeldt, die eine Weblehre mit Gesellen- und Meisterprüfung an der höheren Textilschule in Berlin absolvierte, riet, nach Weimar zu gehen und dort am Bauhaus zu studieren. Marie Thierfeldt folgte dem Rat und studierte zwischen 1924 und 1925 am Bauhaus in Weimar und 1926 am Bauhaus in Dessau. "Gropius vermittelte mir das Gefühl für den Raum, Kandinsky die Fläche, Klee die Farbe", erzählte sie später. "Meine künstlerische Arbeit bekam dann ihre Bestätigung in meiner Berufung zur außerordentlichen Lehrerin an der Königsberger Kunstakademie". Dort war sie von 1927 bis 1933 tätig. Dann betrieb sie eine eigene Webwerkstatt in Insterburg. 1941 ließen die nationalsozialistischen Behörden die Werkstatt schließen. Marie Thierfeldt wurde dienstverpflichtet. Silvester 1944 floh sie nach Schleswig-Holstein, wo sie als Jute-Weberin ihren Lebensunterhalt verdiente. Später übernahm sie in Ahrensburg eine kleine Weberei, bis sie 1950 in Hamburg am Mittelweg 145 Hinterhof eine Werkstatt errichten konnte. Dort standen drei große Webrahmen. Ein Webrahmen erlaubte sogar Spannbreiten bis zu drei Metern. Über ein Holztreppchen ging es zur Wohnwerkstatt. Auch hier standen Spinnräder und ein Webstuhl. Die Wohnung teilte sie sich mit ihrer älteren Schwester Lina Bartschat (26.7.1888 - 2.10.1970), die den Haushalt führte und auch die Angestellten - eine Weberin und zwei Lehrlinge - bekochte. Marie Thierfeldt beschäftigte sich vor allem mit der Mischung und Abstufung der Materialfarben. Für einen Teppich in der St. Petri Kirche in Hamburg verwendete sie die Farbe Rot in 40 Varianten. Ihre Arbeiten waren und sind in vielen öffentlichen Gebäuden und Museen zu finden, so im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg. Sie stellte u. a. Wandteppiche für das Gemeindehaus Langenhorn, das Gemeindehaus Geesthacht, den Sitzungsraum der Großmarkthalle und für die Deutsche Botschaft in Stockholm her. Für die Hamburgische Staatsoper schuf sie den Wandteppich "Petruschka", der heute im Ballettzentrum hängt. Für den Wandteppich, den sie für das Gästehaus der Deutschen Bank herstellte, erhielt sie 1966 den Preis der Hamburger Kulturbehörde.

    Leonore (Lola) Toepke

    Bildhauerin, Opfer des Nationalsozialismus

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    4.7.1891
    Leopoldshall

    3.1.1945
    im KZ Stutthoff
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    Als Edith Leonore Caroline Simon wurde Lola Toepke am 4. Juli 1891 in Leopoldshall nahe Staßfurt im Herzogtum Anhalt geboren. Sie war die älteste Tochter des Juristen Georg Simon und seiner Frau Anna Marie geb. Seckel. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Staßfurt, Nordhausen und Halle an der Saale (durch berufsbedingte Umzüge des Vaters). Lola besaß als Mädchen eine überbordende Phantasie und war sehr verspielt. Das ließ sie in Konflikt mit dem strengen, auf Autorität ausgerichteten preußischen Schulsystem geraten. Schließlich wurde sie vom Schulunterricht als zu „unaufmerksam“ ausgeschlossen. Ihre Eltern brachten sie mit elf Jahren im 1890 gegründeten Schulinternat für entwicklungsgeschädigte und -gestörte Kinder des Pädagogen Johannes Trüper (1855-1921) in Jena unter, das zu der Zeit das erste Heilerziehungsheim in Deutschland war. Dort entdeckte man ihre große künstlerische Begabung, die man durch eine musische Erziehung auffing. Sie soll anlässlich eines Streits mit einem Familienmitglied entdeckt worden sein, bei dem Lola erregt ein Stückchen Ton in ihrer Hand hin- und herknetete und am Ende feststellte, dass daraus eine Figur geworden war. Nach Abschluss der mittleren Reife auf einer Schule im schweizerischen Neuchâtel, wo sie in natürlicher Umgebung zu sportlicher Betätigung angeregt wurde und sich mit der französischen Sprache und Dichtung vertraut machte, kehrte sie mit 16 Jahren zu ihren Angehörigen nach Halle an der Saale zurück (ihr Vater war 1903 gestorben). Lola Simon beschloss, ihren künstlerischen Neigungen weiter nachzugehen. An der Universität Halle erwirkte sie mit Hilfe ihrer Mutter, die dort Kunstgeschichte studierte, eine Zulassung als Gasthörerin bei den kunstgeschichtlichen Kollegs. Nachfolgend besuchte sie die Kunstgewerbeschule in Halle, wo sie das Handwerk der Bildhauerei erlernte. Die Kunstgewerbeschulen hatten sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts nur zögernd für Frauen geöffnet. Kunst sollte nicht der Berufsfindung, sondern der Geschmacksbildung für höhere Töchter dienen. Daher waren die hauptberuflich Lehrenden auch alle Männer, die darauf achteten, dass die Zahl zu unterrichtender Frauen begrenzt blieb, um genügend Studienplätze für männliche Kommilitonen bereithalten zu können. Doch gelang es der temperamentvollen Lola Simon augenscheinlich, sich auf dem Gebiet der Kunst durchzusetzen. Im Alter von 20 wurde sie Meisterschülerin von Professor Engelmann und folgte ihm an die Kunsthochschule nach Weimar. Richard Engelmann (1868-1966) gehörte vor dem Ersten Weltkrieg zu den führenden deutschen Bildhauern und Radierern. Zwischen 1913 und 1933 wirkte er als Professor für Bildhauerei an der Weimarer Hochschule für bildende Kunst. 1935 wurde er als Jude offiziell mit Berufsverbot belegt; dank einer „arischen Mischehe“ konnte er die NS-Zeit in der Nähe von Freiburg im Breisgau überleben. 1914 meldete sich Lola Simon freiwillig als Hilfsschwester für das Rote Kreuz, das sie nach Ostpreußen schickte. Erst 1919 kehrte sie nach Weimar zurück, wo der bekannte Architekt Walter Gropius (1883-1969) im Frühjahr die Kunsthochschule in das neue Staatliche Bauhaus Weimar eingegliedert hatte. Nach Differenzen mit Gropius verließ Engelmann allerdings das Bauhaus und leitete ab 1921 die Bildhauerklasse an der wieder errichteten Hochschule für bildende Kunst. Lola Simon heiratete 1921 einen Herrn Toepke aus Guatemala, dessen Vater Deutscher war. Doch während ihr Ehemann wieder dorthin zurückkehrte, um den Familienbesitz aufzubauen, blieb sie weiter in Deutschland. (Möglicherweise wird es sich bei dem Ehemann um Hermann Toepke gehandelt haben. 1939 berichtete Professor Franz Termer, von 1935 bis 1962 Direktor des Museums für Völkerkunde in Hamburg und Lehrbeauftragter für Ethnologie an der dortigen Universität, über seine Reise durch den Westen Guatemalas, bei der er auch auf der Finca „des Herrn Hermann Töpke“ Station gemacht hatte.) 1923 ließ Lola sich wieder scheiden. Nach Meinung einer Zeitzeugin soll die kurze Ehe, aus der keine Kinder hervorgingen, von Lola nur aus dem Grund geschlossen worden sein, um ihren allzu jüdisch klingenden Nachnamen ablegen zu können. Eine andere Dame ist der Überzeugung, dass die Ehe scheiterte, weil Lola nicht mit in die Heimat ihres Mannes kommen wollte, der sie zudem ohne Zustimmung seiner Eltern geheiratet habe. Auch habe sie sein späteres Angebot, aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu ihm nach Mittelamerika zu kommen, abgelehnt. Der Verlegung des Bauhauses nach Dessau im Jahr 1925 folgte Lola Toepke nicht. Sie verließ Weimar und richtete sich in Hamburg-Wandsbek ein eigenes Atelier ein. In Hamburg, wo zu der Zeit auch ihre Mutter und ihre jüngere Schwester Ellen Simon (auch auf dem Grabstein verewigt) wohnten, besuchte sie die Landeskunstschule und erhielt Unterricht vom Bildhauer und Illustrator Johann Bossard (1874-1950). Als freie Künstlerin war sie zwei Jahre in Holland tätig. Daneben nahm sie mehrere Portraitaufträge an: Sie lebte dazu in verschiedenen Familien in Deutschland, wo sie die Kinder im freien Spiel beobachtete, um dann eine Büste von ihnen anzufertigen. 1927 bezog Lola ein Atelier im Mittelhaus in der Breiten Straße 14. Groß, dunkelhaarig mit modischem Bubikopf und von attraktivem Äußeren ging Lola Toepke ganz in ihrem Beruf auf und genoss die Freiheiten des Künstlerlebens, die sich ihr in den zwanziger Jahren in Hamburg boten. Sie galt als großzügig und warmherzig, soll aber auch gelegentlich verschwenderisch gewesen sein. Sicherlich nahm sie an vielen der ausgelassenen Feste der Hamburgischen Sezession und Künstlerschaft teil. Der „Hamburger Anzeiger“ schrieb dabei über eines der von vielen Hamburger Bürgern als zu freizügig empfundenen Künstlerfeste beruhigend, „dass selbst um die vierte Morgenstunde alles aufs Fleißigste tanzte, aufs Lustigste scherzte, und dennoch die so leicht im Sekt ertrinkenden Grenzen innerlicher Wohlanständigkeit immer spürbar blieben“. Jeden Donnerstagnachmittag traf sich im Atelier von Lola Toepke eine kleine Künstlergruppe zum gemeinsamen Arbeiten. Lolas Vorbilder waren Rodin und Barlach. Als Mitglied der Hamburgischen Künstlerschaft stellte sie zwischen 1928 und 1932 ihre figürlichen Ton- und Gipsplastiken in der Hamburgischen Sezession sowie im Hamburger Kunstverein aus. Die meisten ihrer wenigen Arbeiten, meist kleinformatige Keramiken, befinden sich heute in Privatbesitz. Ausnahmen bilden die Büste des Kunstkritikers Harry Reuss-Löwenstein (1880-1966) von 1928, die das Hamburger Staatsarchiv in dessen Nachlass verwahrt, sowie die Feinkeramik „Tänzerin“ von 1928/29, die sich im Kieler Stadtmuseum Warleberger Hof befindet. Daneben war Lola Toepke auch pädagogisch tätig. So versuchte sie, die Frau des Volksschullehrers Fritz Borchert mit Tonarbeiten an ein plastisches Verständnis heranzuführen. Dies gelang auch zunächst: Hertha Borchert (17.2.1895 Altengamme - 26.2.1985 Hamburg. Ihr Grab befindet sich auf dem Ohlsdorfer Friedhof: Grablage: AC 5, 6, siehe zu ihr in de rRubri: Frauen auf der Erinnerungsskulptur) schaffte sich einen Töpferbock an und arbeitete bis spät in die Nacht hinein in ihrer Küche an Plastiken. Doch schien ihr das bald zu mühevoll; sie wandte sich der Schriftstellerei zu und wurde eine bedeutende plattdeutsche Autorin. Überrundet wurde sie in ihrer Berühmtheit allerdings von ihrem 1921 geborenen Sohn Wolfgang Borchert, dessen bekanntestes Stück „Draußen vor der Tür“ (das kurz nach seinem Tod am 21. November 1947 in Hamburg seine Uraufführung erlebte) bis heute auf deutschen Bühnen gespielt wird. Als Kind werden sich Lola Toepke und er sicherlich im Haus seiner Eltern begegnet sein. Da Lola Toepke gern mit anderen, speziell jungen Menschen zusammen war, müssen sie die antijüdischen Gesetze nach dem Machtantritt Hitlers schwer getroffen haben. Am 25. April 1933 wurde sie unehrenhaft aus der Hamburgischen Künstlerschaft ausgestoßen. Die Bestimmungen der „Nürnberger Gesetze“ machten die 1897 evangelisch Getaufte wegen ihrer jüdischen Vorfahren wieder zur Jüdin. Sie durfte nicht mehr ausstellen und wurde 1937 schließlich aus der Reichskammer der Bildenden Künste ausgeschlossen. Eine dortige Mitgliedschaft war Bedingung, um im nationalsozialistischen Deutschland künstlerisch arbeiten und öffentlich ausstellen zu können. Aus Protest gegen den Rassismus der NS-Machthaber hatte sie sich aus dem Hamburger Hafen einen schwarzen Matrosen als Modell in ihr Atelier geholt und von ihm eine Büste angefertigt. Wegen dieser (damals so bezeichneten) „Negerbüste“ wurde sie von einem Bewohner aus ihrem Haus angezeigt, der der SS angehörte. Seit 1934 wohnte Lola Toepke im vierten Stock in der Lübecker Straße 82 (heute Lübecker Straße 78a). Nach ihrem Ausschluss aus der Kulturkammer konnte sie sich für einige Zeit ihren Lebensunterhalt bei einem Steinmetz verdienen. Daneben unterstützten Lola, die durch die zunehmende Zahl antijüdischer Verordnungen immer stärker aus dem öffentlichen Leben gedrängt wurde, aber auch viele Freunde und Bekannte weiter finanziell, indem sie ihr Skulpturen abkauften oder sie in der Vorweihnachtszeit zum Basteln und Töpfern mit ihren Kindern einluden. Auch ihre nach London emigrierte Schwester  Ellen Simon half ihr so gut es ging, indem sie ihr monatlich einen kleinen Geldbetrag zukommen ließ. Daneben bot sie ihr an, nach England zu kommen, was Lola, die an das Gute im Menschen glaubte und die Nationalsozialisten vollkommen unterschätzte, aber ablehnte. Vielleicht fürchtete sie sich auch vor einem Neubeginn in einer für sie unbekannten Umgebung, zumal man ihr im Ausland mit über 40 Jahren nur schwer eine Stelle hätte vermitteln können. Trotz allem wurde Lola Toepkes finanzielle Situation zunehmend schlechter. Dazu litt sie Anfang der vierziger Jahre auch unter gesundheitlichen Problemen. Sie versuchte, den Kontakt zu alten Bekannten aufrechtzuerhalten, soll sogar noch eine kurze Liebesbeziehung zu einem Mann eingegangen sein. Auch bemühte sie sich, weiterhin am großstädtischen Leben teilzuhaben. So habe sie nach den Erinnerungen einer Zeitzeugin trotz Verbots für Juden weiterhin die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt und dabei ihren Judenstern mit ihrem Mantelkragen verdeckt. Als im Herbst 1941 die Deportationen aus Hamburg begannen, gehörte Lola Toepke als allein stehende Frau ohne weitere Familie mit zu den ersten, die einen Deportationsbefehl erhielten. Er war verbunden mit der Erklärung, dass man sie zum Arbeitseinsatz in den Osten bringen würde, um dort zu siedeln. Daher sollten Winterbekleidung und ein Spaten mitgebracht werden. Lola Toepke machte sich keine großen Gedanken und glaubte weiterhin an nichts Schlechtes. Und so verabschiedete sie sich von ihren noch verbliebenen Freunden, wobei sie mit einer Bekannten erörtert haben soll, ob es wohl ratsam sei, wegen des herannahenden Weihnachtsfestes auch Tannenbaumschmuck mit einzupacken. Am 6. Dezember 1941 ging vom Bahnhof Sternschanze ein Transport nach Riga mit 753 Menschen ab, unter ihnen auch Lola Toepke. Einige ihrer Bekannten hatten zuvor zwar überlegt, sie zu verstecken, doch hätte das lebhafte Wesen Lolas wahrscheinlich schnell zu ihrer Entdeckung geführt – so deren Befürchtung. In Riga war am 1. Dezember 1941 ein Ghetto für Juden aus dem Deutschen Reich eingerichtet worden. Viele Insassen fielen den regelmäßigen Mordaktionen zum Opfer oder den harten Lebensbedingungen. Die Überlebenden des Ghettos wurden ab dem Spätsommer 1943 ins KZ Riga überstellt, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten. Die weiblichen Häftlinge des KZ Riga wurden bei Herannahen der russischen Armee ab Sommer 1944 ins KZ Stutthof evakuiert. Zu ihnen gehörte auch die mittlerweile 53-jährige Lola Toepke. Das östlich von Danzig gelegene Lager Stutthof war am 1. September 1939 für „minderschwere Fälle“, d. h. noch „besserungsfähige“ Häftlinge, eröffnet worden. Die ab Ende Juni 1944 aus Riga und Auschwitz kommenden, meist völlig erschöpften Häftlinge wurden überwiegend in der 1943 eingerichteten Gaskammer ermordet oder erschossen. Der am 1. Oktober 1944 in Stutthof eingetroffenen Lola Toepke gelang es, noch bis zum 3. Januar 1945 zu überleben. Man kann sich sicherlich kaum vorstellen, welche Qualen sie in den mehr drei Jahren nach ihrer Deportation aus Hamburg hat erleiden müssen. Bei alldem muss sie einen starken Willen zum Überleben gehabt haben, gemäß dem einzigen Satz, der auf einer von ihr geschriebenen und dann aus dem nach Riga fahrenden Zug geworfenen Postkarte stand: „Der Roman Lola geht weiter!“ Text: Dr. Stephan Heinemann Zitate, Literaturverzeichnis: • Maschinengeschriebenes Manuskript von Dr. Ellen Simon zur Biografie ihrer Schwester Lola Toepke [Original im Besitz von Dr. Herbert Gartmann, München]. • Silke Opitz: Leben und Werk des Bildhauers Richard Engelmann, Aufsatz zu finden unter: http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/text/79875/. • Neunseitiger Artikel über die Bauhaus-Universität Weimar, zu finden unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Bauhaus-Universität_Weimar. • Fünfseitiger Artikel über Johannes Trüper, zu finden unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Trüper. • Biografische Angaben zu Franz Termer, zu finden unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Termer. • Franz Termer: Beobachtungen im Bereich des Staukegels Santiago des Vulkans Santa Maria in Guatemala, in: Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Geowissenschaften, Bd. 91 (1939), S. 766-769. • Angaben zur Feinkeramik „Tänzerin“ von Lola Toepke im Kieler Stadtmuseum Warleberger Hof lassen sich über die Internetseite der Museen in Schleswig-Holstein finden (http://www.museen-sh.de). • Staatsarchiv Hamburg. Hamburger Adressbücher von 1924 bis 1940. • Interviews mit Frau Mossdorf und Frau v. F. aus Hamburg vom September 2006. • Bruhns, Maike: Kunst in der Krise. Bd. 1: Hamburger Kunst im „Dritten Reich“, Hamburg/München 2001. Bd. 2: Künstlerlexikon Hamburg 1933-1945. Verfemt, verfolgt - verschollen, vergessen. Hamburg/München 2001, bes. S. 389f. • Dies.: Jüdische Künstler im Nationalsozialismus, in: Ulrich Bauche (Hrsg.): Vierhundert Jahre Juden in Hamburg. Eine Ausstellung des Museums für Hamburgische Geschichte vom 8.11.1991 bis 29.3. 1992. (= Die Geschichte der Juden in Hamburg 1590-1990. Bd. 1), Hamburg 1991, S. 345-360. • Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle. Hrsg. vom „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.“ und dem „Riga-Komitee der deutschen Städte“ gemeinsam mit der Stiftung „Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum“ und der Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“. 2 Bde., München 2003. • Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945, bearbeitet und hrsg. vom Bundesarchiv Koblenz. 2. Wesentlich erweiterte Aufl., Bd. 4, Koblenz 2006, S. 3496. • Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch, bearbeitet von Jürgen Sielemann unter Mitarbeit von Paul Flamme (= Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg, Bd. 15). Hamburg 1995, bes. S. 413. • Schröder, Claus B.: Wolfgang Borchert. Biografie, Hamburg 1985, bes. S. 45f. • Weimar, Friederike: Die Hamburgische Sezession 1919-1933. Geschichte und Künstlerlexikon. Fischerhude 2003. • Wolff-Thomsen, Ulrike: Lexikon schleswig-holsteinischer Künstlerinnen, hrsg. vom Städtischen Museum Flensburg. Heide 1994, bes. S. 320f. Auf Lola Toepkes Grabstein steht auch der Namen ihrer Verwandten Lena Brückmann, deren Mutter sich vor ihrer Deportation nach Theresienstadt im Juli 1942 selbst tötete.    

    Anne-Marie Vogler

    Bildhauerin und Grafikerin

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    7.6.1892
    Altona

    30.5.1983
    Hamburg
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    Anne-Marie Vogler stammte aus einer großbürgerlichen Familie. Ihre Mutter war Clara Mathilde Vogler, geb. Leopold, ihr Vater der Exportkaufmann Friedrich Vogler. Mit ihren vier Brüdern wuchs Anne-Marie in Altona an der Elbchaussee auf. Sie segelte und ruderte mit den Brüdern auf der Elbe und lernte durch den ständigen Umgang mit ihnen Manches, worum Freundinnen sie bewunderten oder beneideten. Nach dem Besuch einer Höheren Mädchenschule verbrachte sie ein Jahr in London bei ihrem Onkel, um Hauswirtschaft und Englisch zu lernen. Sie bekam Klavier- und Gesangsunterricht, und erwog, Musikerin zu werden. Mit ihrem Bruder Kurt, der Geige spielte, arbeitete sie an einer gemeinsamen musikalischen Laufbahn. Nachdem ihr Bruder Karl 1916 als Soldat getötet worden war, spielte sie jedoch nie wieder mehr Klavier und wandte sich der bildenden Kunst zu. Von 1916 bis 1918 besuchte sie die graphische Klasse des Graphikers und Bildhauers Carl Otto Czeschka an der Kunstgewerbeschule. Sie begann in Elfenbein zu arbeiten und schnitt Tiere, Becher, Schalen, Griffe, etc. aus diesem Material. Später arbeitete sie mit Holz und nahm von 1922 bis 1925 Unterricht bei dem Holzbildhauer August Henneberger an der Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Altona. Dann ging sie nach München an die Akademie der bildenden Künste und beschäftigte sich auch mit Christlicher Kunst. 1929 zog sie nach Berlin, arbeitete dort in einem eigenen Atelier und kehrte 1931 nach Hamburg zurück, wo sie sich ein Atelier im Mittelweg einrichtete. Sie versammelte einen Kreis geistig interessierter Menschen um sich, zu dem auch die Malerinnen Anita Rée und Gretchen Wohlwill gehörten. In der Zeit des Nationalsozialismus gehörte sie zu der Gruppe von Gegnern und Gegnerinnen des NS-Regimes um den Buchhändler Felix Jud, die sich in seiner Buchhandlung in den Collonaden traf. Anne-Marie Vogler blieb unverheiratet. Die ersten Aufträge, die sie erhielt, waren Türreliefs für eine Fliegerschule, Intarsien für die spanische Botschaft in Berlin, Kaminplatten und Brunnenwände für Privathäuser bzw. -gärten, Grabmale, vor allem aber Plaketten und Portraitbüsten. 1947 erhielt sie den ersten größeren Auftrag, der in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erregte. Sie sollte die sechs Glocken des Limburger Doms, die im Zweiten Welt-krieg eingeschmolzen worden waren und nun nachgegossen wurden, mit Schrift und Bildschmuck versehen. Anne-Marie Vogler arbeitete in einer überlieferten, doch seit Jahrhunderten nicht mehr angewendeten Technik, indem sie vor dem Guss Figuren, Ornamente und Schrift von innen in den Ton ritzte, was bedeutete, dass sie in das Innere der Glocke kriechen und seitenverkehrt arbeiten musste. 1959 schuf sie ihre erste lebensgroße Vollplastik "Mutter und Kind" für einen Schulhof in Dockenhuden. Ein weiteres Werk ist z. B. der Marmortrinkbrunnen im Hauptbahnhof-Süd. Die meisten ihrer großen, als "Kunst am Bau" entstandenen Arbeiten führte sie nicht selbst aus. Sie lieferte die Entwürfe und ließ sie unter ihrer Anleitung und Korrektur vom Steinmetz verwirklichen. 1978 hatte die damals 85-Jährige im Kunstverein ihre erste Einzelausstellung in Hamburg. Besondere Aufmerksamkeit erregte eine Gruppe von Fußballspielern, die um 1970 entstanden war und die der Freund und Kollege Karl August Ohrt als Thema aufgriff, als er für die im Alter von 91 Jahren Verstorbene eine Grabplatte aus schwarzem Granit schuf. Was sie an den Sportlern faszinierte, waren ihre Bewegungen und die Aufgabe, sie in eine künstlerische Form zu bringen. Wesentliches aus Brita Reimers Portrait über Anne-Marie Vogler, in: Rita Bake, Brita Reimers: Stadt der toten Frauen. Hamburg 1997.

    Edith Weiss-Mann

    (geb. Weiss)

    Cembalistin, Klavierpädagogin, Musikkritikerin

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    11.5.1885
    Hamburg

    18.5.1951
    Westfield/New Jersey, USA
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    Die in Hamburg geborene Edith Weiss-Mann war eine in ihrer Heimatstadt sehr angesehene Künstlerin, die das Hamburger Musikleben in den zwanziger und dreißiger Jahren außerordentlich stark beeinflusst und gefördert hat. „MANN WEISS – EDITH WEISS MANN“ 1), warb damals ein Plakat. Ihre Ausbildung zur Pianistin hatte die Tochter des Kaufmanns Emil Weiss und seiner Ehefrau Hermine, geb. Rosenbaum von 1900 bis 1904 in Berlin an der Hochschule für Musik und danach bei verschiedenen Privatlehrern erhalten: von 1904 bis 1908 bei James Kwast, danach bei José Vianna da Motta, Carl Friedberg und Bruno Eisner. Nach dem Examen ging sie nach Hamburg zurück und entfaltete eine umfangreiche musikalische Tätigkeit. Sie gab privaten Klavierunterricht, veranstaltete als Mitglied im Musikausschuss der „Gesellschaft der Freunde des Vaterländischen Schul- und Erziehungswesens“ zusammen mit anderen Künstlern in Schulen „Musikvorträge für die Jugend“ und bildete, da es in Hamburg noch keine Musikhochschule gab, in Seminaren an der Universität Musiklehrer aus, wobei sie von 1929 bis 1933 die Klavierklasse leitete. 1923 wirkte sie beim Aufbau der Volksmusikschule mit und gab fortgeschrittenen Schülern Klavierunterricht. Aber nicht nur auf pädagogischem Gebiet zeigte Edith Weiss-Mann sich mit ihren zum Teil neuen und ungewöhnlichen Aktivitäten und reformpädagogischen Ideen als Wegbereiterin, sondern auch auf künstlerischem: Sie wurde eine der ersten Cembalistinnen und brachte das Cembalo als Konzertinstrument wieder zur Geltung. Ihr Interesse an diesem Instrument hatte das Konzert der polnischen Pianistin Wanda Landowska im Museum für Hamburgische Geschichte erweckt. Auch Edith Weiss-Mann bekam die Erlaubnis, dort zu üben und zu konzertieren. Die 1925 von ihr gegründete „Vereinigung zur Pflege alter Musik in Hamburg“ veranstaltete ihre ersten Konzerte in den Räumen des Museums für Hamburgische Geschichte. Sie wurden aufgrund der großen Resonanz aber bald in den kleinen Saal der Musikhalle verlegt. Ab 1927 hatte Edith Weiss-Mann ihr eigenes Cembalo, einen Nachbau des Instrumentes aus der Berliner Musikinstrumentensammlung, das als „Bach-Cembalo“ galt. Neben ihrem Engagement für die barocke Aufführungspraxis, die heute wieder große Bedeutung hat, setzte Edith-Weiss-Mann sich auch für zeitgenössische Musik ein, zum einen durch Aufführungen von Werken, zu denen sie möglichst die Komponisten zur Mitwirkung heranzog, zum anderen durch ihre Tätigkeit als Musikkritikerin. Sie schrieb für zahlreiche Zeitungen wie für das „Hamburger Fremdenblatt“, die „Deutsche Allgemeine Zeitung“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, für die Schweizer Fachpresse und den „Musical Courier“ in New York. In ihrer großen Wohnung in der Alten Rabenstraße 34 veranstaltete Edith Weiss-Mann häufig Hauskonzerte, zu denen sie die nötigen Instrumentalisten hinzuzog. Oft wirkte auch ihr Sohn Alfred mit, der aus ihrer Ehe mit dem Kunstmaler Wilhelm Mann (1882-1957) stammte und 1917 geboren war. Er hatte ihre musikalische Begabung geerbt, spielte bereits vor dem Abitur alle Streichinstrumente und Blockflöte, komponierte und betätigte sich schreibend auf musikwissenschaftlichem Gebiet. Er ist heute Professor in den USA. 1935 richtete Edith Weiss-Mann eine regelmäßige häusliche Veranstaltung ein, die so genannte Sonntagsstunde, zu der sich Schüler, deren Eltern und Freunde einfanden. Eine ehemalige Schülerin, Irmgard Schumann-Reye, berichtet von diesen Stunden: „Ein bestimmtes Thema wurde aufgestellt, z.B. ‚Händel’. Dazu legte sie Abbildungen des Komponisten und seiner Wirkungsstätte auf dem Flügel aus, las aus entsprechender Literatur vor und brachte Musikbeispiele zu Gehör, bei denen sie selber spielte und je nach Bedarf Streich-, Blas- oder Gesangssolisten eingeladen hatte, die mitwirkten“ 2). Diese Sonntagsstunden fanden auch dann noch statt, als Edith Weiss-Mann 1937 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft gezwungen wurde, in eine sehr viel kleinere Wohnung in der Johnsallee 2 zu ziehen. Als Lehrkraft war sie bereits 1933 entlassen worden, und öffentlich auftreten durfte sie seitdem nur noch im Jüdischen Kulturbund, einer Einrichtung, die mit dem Ziel, den zahlreichen entlassenen jüdischen Künstlern Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen, zuerst 1933 in Berlin mit staatlicher Genehmigung gegründet worden war. Der jüdische Kulturbund Hamburg entstand 1934. Er war die einzige noch erlaubte Wirkungsstätte für jüdische Künstler. Auch als Publikum waren nur Juden zugelassen. Freunde und Kollegen wie Wilhelm Furtwängler, Armin Knab von der Akademie für Kirchenmusik in Berlin und Professor Stein von der Hochschule für Musik in Berlin taten alles, um Edith Weiss-Mann zu schützen und zu unterstützen. Um ihre materielle Lage zu verbessern, ließ der Freund und Theaterkritiker Hans Sommerhäuser Wilhelm Furtwängler und Armin Knab Artikel für den „Hamburger Anzeiger“ schreiben. Das fürstliche Honorar wurde Edith Weiss-Mann überwiesen. Furtwängler verschaffte ihr trotz des Auftrittverbots sogar noch einmal die Gelegenheit, öffentlich zu spielen. Hans Sommerhäuser berichtet: „Furtwängler bestellte sie in jener Zeit einmal auf den Hauptbahnhof in Hamburg, wo man unbeobachteter miteinander verhandeln konnte als in offiziellen Diensträumen oder Kulturinstitutionen, und bat sie um ihr ‚großartiges Cembalo’. Edith sagte zu, wie früher oft. Als Edith von den Besuchern des Konzertes sprach und auf die Gefährlichkeit der Situation hinwies, antwortete Furtwängler: ‚Aber, gnädige Frau, selbstverständlich sitzen Sie am Cembalo!’ Das war tapfer von Furtwängler. Edith Weiss-Mann war überglücklich, denn sonst durfte sie nicht mehr spielen“ 3). Am 7.1.1939 heiratete Edith Weiss-Mann Jens Grau, der ebenfalls wie sie jüdischer Herkunft war. Diesen wesentlich jüngeren Mann soll sie nur deshalb geheiratet haben, um über Dänemark, wo der Däne Jens Grau lebte, in die USA emigrieren zu können. Gut zwei Wochen nach der Heirat emigrierte Edith Weiss-Mann am 23. März 1939 per Schiff mit ihrem Cembalo in die USA, wo ihr Sohn 1939 bis 1942 in Philadelphia Musik studierte. Die Schiffsreise führte über Englang, wo sich Edith Weiss-Mann von Jens scheiden ließ. An den USA angekommen zog sie jedoch nicht zu ihrem Sohn, sondern nach New York. Mit fast 54 Jahren musste sie noch einmal ganz von vorne anfangen. An ihre Schülerin Irmgard Schumann-Reye schreibt sie am 6. November 1939: „Tröstet es Sie, wenn ich Ihnen sage, dass ich ähnlich wie Sie völlig ungewohnte schwere Arbeit tue, immer noch mit der Angst dabei, in Form zu bleiben für die Musik und für die unvorstellbaren Ansprüche an äußerer Bereitschaft überhaupt. Die sind hier märchenhaft … Ich renne umher, unvorstellbar, um etwas bekannt zu werden“ 2). Mit zäher Energie und eisernem Willen schaffte es Edith Weiss-Mann, sich eine neue Karriere aufzubauen. Sie spielte bald in Konzertsälen und im Rundfunk, auch zusammen mit ihrem Sohn. Ihr wohl größter Anfangserfolg aber war im Herbst 1940 die Einspielung sämtlicher Cembalokonzerte Bachs und der Werke der norddeutschen Barockmeister unter Otto Klemperer. Weitere Schallplattenaufnahmen sollten folgen. Trotz eines schweren Krebsleidens in den letzten fünf Jahren ihres Lebens arbeitete Edith Weiss-Mann unermüdlich weiter. Sie bestand darauf, alleine zu wohnen und zu unterrichten, als sie es schon längst nicht mehr konnte. Erst als sie 1951 in ihrer Wohnung bewusstlos wurde, willigte sie ein, in das Haus ihres Sohnes und seiner Familie zu ziehen, wo sie kurz nach ihrem 66. Geburtstag, am 18. Mai 1951, starb. Ihre Asche wurde nach Hamburg überführt und auf der Grabstelle ihrer Schwiegereltern beigesetzt. In dem Glauben, mit der schweren Magenoperation im Jahre 1946 den Krebs überwunden zu haben, hatte sie an ihre Schülerin geschrieben: „Aber dem Leben und der Musik wiedergegeben zu sein ist herrlich“ 2). Text: Brita Reimers Zitate: [1] Diesen Hinweis verdanke ich einer Schülerin von Edith Weiss-Mann , der Komponistin Felicitas Kuckuck.. [2] Irmgard Schumann-Reye: Edith Weiss-Mann (1885-1951). In: Hamb. Geschichts- und Heimatblätter. Bd. XI. 8. Dezember 1985. [3] Erich Lüth: Hamburger Theater 1933-1945. Ein Theatergeschichtlicher Versuch. Hrsg. von der Theatersammlung der Hamburgischen Universität. Hamburg 1962.  

    Aenne Willkomm

    verh. Kettelhut

    Kostümbildnerin

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    17.06.1902
    Shanghai

    20.06.1979
    Hamburg
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    Über Aenne Wilkomm's Herkunft ist nichts bekannt. Kurz nachdem sie ihre Ausbildung in der Modeklasse des Lette-Vereins zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts abgeschlossen hatte, kam sie zum Film. Der Filmproduzent Erich Pommer hatte sie engagiert, nachdem er sich bei den öffentlichen Abschlussprüfungen des Lette-Vereins die Arbeiten der Schülerinnen angesehen hatte. Er benötigte Aenne Willkomm zur Unterstützung des kranken Kostümdesigners Paul Gerd Guderian (1896-1924). Aenne Willkomms Ehemann, Erich Kettelhut, schreibt dazu in seinen Erinnerungen: "Herr Guderian starb an Tuberkulose (…). Die erst zwanzig Jahre alte Aenne Willkomm, direkt von der Schule in das hektische Filmgeschäft gestellt, befand sich in keiner beneidenswerten Lage.
    Neben den noch zum Teil in Arbeit befindlichen Kostümen zum ersten Teil der ‚Nibelungen' war die Hunnenbekleidung zum zweiten Teil bei Umlauff in Hamburg über das Anfangsstadium noch nicht hinausgekommen. Arthur von Gerlach, der Regisseur des Grieshuus-Filmes, wartete indes auf die Kostümentwürfe, denn auch er hatte Herrn Guderian als Kostümberater verpflichtet." 1) Diese desolate Situation fand Aenne Willkomm vor und musste nun tätig werden.
    "Fräulein Willkomms Pastellenentwürfe trugen ihr sofort die Achtung aller Beteiligten ein. Ebenso folgten die ausführenden Firmen willig ihren Anweisungen. Aenne Willkomm hat sich mit einem Schlag durchgesetzt. Fritz Lang bestand jetzt darauf, dass die junge Frau ausschließlich für ihn arbeiten sollte; genau dasselbe forderte auch Arthur von Gerlach. Andere Regisseure wollten auch nicht zurückstehen. So avancierte Fräulein Willkomm zur Leiterin der Ufa Kostümabteilung." 2)
    Später kam es wegen Aenne Willkomm zwischen Fritz Lang und Arthur von Gerlach "zu einem heftigen Tauziehen". 3) Jeder der beiden Regisseure wollte sie exklusiv für seine damals gedrehten Filme. "Pommer entschied schließlich diesen Streit. Fräulein Willkomm sei nicht nur für diese beiden Filme, sondern für alle in Babelsberg produzierten Filme angestellt."4)
    Aenne Willkomm und Heinrich Umlauff waren für die Kostüme der zweiteiligen Großproduktion "Die Nibelungen" von Fritz Lang zuständig. "Er und Fräulein Willkomm leisteten Teamarbeit mit dem Garderobenpersonal. Es galt die Garderobe von mehreren hundert Hunnenkriegern und -frauen zu sichten, zu ordnen und sie griffbereit zu halten. Erstaunlich schnell hatte sich Fräulein Willkomm im Filmbetrieb eingearbeitet. Sie verstand es, immer zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. So war der Grieshuus-Film, was Kostümentwürfe und deren Ausführung betraf, reibungslos fertiggestellt worden. Auch jetzt [beim Nibelungenfilm] betreute sie mehrere Filme mit Kostümen der unterschiedlichsten Zeitepochen" 5), so ihr Ehemann Erich Kettelhut.
    Aenne Willkomm entwarf auch die futuristischen Kostüme von Fritz Langs Metropolis-Film (1927). Ihre Einkleidung der Schauspielerin Brigitte Helm, die die Maria spielte, setzten Akzente. Aenne Willkomm wollte mit ihren Kostümentwürfen - wie sie sagte - "den Realismus und die Authentizität des Phantastischen" betonen.
    "Aenne, die mit einem umfangreichen Mitarbeiterstab, Garderobiers, Schneidern und Näherinnen in einem extra für sie erbauten Garderobentrakt die Kostümausstattung aller in Neubabelsberg [Ufa] hergestellten Filme besorgte und für Entwürfe und Ausstattungen verantwortlich zeichnete, hatte Kontakt zu großen, leistungsfähigen Textilfirmen. Sie vermittelte uns Stoffe oder Posamente für unsere Bauten, und wir konnten ihr helfen, wenn sie Anfertigungen von anderen Werkstätten brauchte, zum Beispiel Stirnreifen, Armspangen und dergleichen". 6)
    Zwischen Aenne Willkomm und Erich Kettelhut entspann sich bei den Filmarbeiten eine Liebesbeziehung: "Ich mochte die Aenne vom ersten Moment an sehr und lernte sie im Laufe der Zeit immer mehr schätzen. Selbstverständlich brachte ich sie abends [nach der Arbeit] bis zu ihrer Haustür in der Charlottenstraße [Berlin], und wenn es nicht gar zu spät war, saßen wir noch eine Stunde in einem Café beieinander." 7)
    Wie es in solchen Fällen oft vorkommt: es kam zur Heirat. Im Frühsommer 1926 gaben sich beide das Ja-Wort. Und damit endete wenig später auch Aenne Willkomms Karriere als viel beachtete Kostümbildnerin. Neben Kostümen für die Filme "Nibelungen" (1922-1924) und "Metropolis" (1925/26) hatte sie auch Kostüme u. a. für die Filme "mein Leopold" (1924), "Zur Chronik von Grieshuus" (1924), "Schwester Veronika" (1926), "Der Katzenstieg" (1927) und "Heimkehr" (1928) entworfen.
    Aenne Willkomm, nun verheiratete Kettelhut und der Filmarchitekt Erich Kettelhut lebten in Hamburg. Aenne Kettelhut scheint als verheiratete Frau noch eine Zeitlang ein Mode-Atelier gehabt zu haben. So fertigte sie z. B. die Garderobe der Schauspielerin Lydia Potechina (1883-1934).
    Aenne Kettelhut überlebte ihren Ehemann um drei Monate. Er starb im Alter von 85 Jahren am 13.3.1979 und sie im Alter von 77 Jahren am 20.6.1979.
    Quellen:
    1) Erich Kettelhut: Der Schatten des Architekten. Hrsg. von Werner Sudendorf. München 2009, S. 72.
    2) Ebenda.
    3) Erich Kettelhut, a. a. O., S. 134.
    4) Ebenda.
    5) Erich Kettelhut, a. a. O., S. 103.
    6) Erich Kettelhut, a. a. O., S. 127.
    7) Erich Kettelhut, a. a. O, S. 174.

    Marianne Wöbcke-Nagel

    Bildhauerin

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    31.12.1906
    Hamburg

    16.09.1988
    Hamburg
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    Ihre berufliche Laufbahn begann Marianne Nagel mit einem Schneiderkurs an der Gewerbeschule, danach ab 1926 mit einer Ausbildung zur MTA am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf und einem halbjährigen Handelsschulkursus im Jahr 1931. Schließlich absolvierte sie zwischen 1933 und 1936 eine Bildhauerausbildung bei Johann Bossard. Nachdem sie ein Jahr im Atelier von K. Bauer gearbeitet hatte, bekam sie 1937 ein eigenes Atelier im Künstlerheim Birkenau 24. Ein Reisestipendium für Paris verwendete sie zu dessen Ausstattung. Als der Zweite Weltkrieg begann, musste ein Praktikum in der keramischen Fabrik Meimerstorf absolvieren, in der sie ‚Winterhilfspakete‘ herstellte. Marianne Woebke-Nagel trat damals nicht der NSDAP bei. 1943 wurde ihr Atelier ausgebombt. Sie floh nach Tübingen, wo sie schwer erkrankte. 1944 kehrte sie nach Hamburg zurück. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus arbeitete sie ab 1946 an der Kunstschule und heiratete 1952 den Bildhauer, Maler, Grafiker Albert Woebcke (1896-1980). Das Paar lebte in Marianne Woebcke-Nagels Elternhaus in der Erikastraße 178. Marianne Woebcke-Nagel, die auch Weihnachtskrippen für Kirchen anfertigte, bekam zwischen 1960 und 1975 Aufträge für das Hamburger Panoptikum, womit sie das Geld für den Unterhalt der Familie verdiente. So modellierte sie für das Panoptikum zum Beispiel in Ton den Kopf des Fußballspielers Uwe Seeler. Insgesamt fertigte sie 33 Büsten an. Sie wurde bei ihrem Ehemann auf dem Ohlsdorfer Friedhof bestattet. Das Grab gilt als Prominentengrab, weil Albert Woebcke – im Gegensatz zu seiner ebenfalls bildhauerisch tätigen Ehefrau – als prominent eingestuft wurde. Marianne Woebcke-Nagel wurde in der Prominentenliste des Friedhofes nicht aufgeführt.

    Gretchen Wohlwill

    Malerin der Hamburgischen Sezession

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    27.11.1878
    Hamburg

    17.5.1962
    Hamburg
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    „Es zieht sich nicht eigentlich ein roter Faden durch mein Leben, sondern Episode reiht sich an Episode, und meine Erlebnisse hängen an den Personen, mit denen ich mehr oder weniger zufällig zusammengetroffen bin“ 1). „So ist mein Leben reich an Freundschaften gewesen, und dankbar muss ich sagen, ist es noch heute“1). Diese beiden Sätze stehen am Anfang und Ende von Gretchen Wohlwills 1953 geschriebenen Lebenserinnerungen. Und so lesen sich ihre Aufzeichnungen auch wie eine Sammlung von Portraits. Aus Darstellungen von Familienmitgliedern, Kolleginnen aus der Schule, Malerfreundinnen und -freunden, Menschen, denen sie während ihrer Emigration in Portugal begegnete, setzt sich das Bild ihres Lebens quasi wie ein Mosaik zusammen. Aber was nach den eingangs zitierten Worten fast spielerisch gelungen zu sein schien und durch die Freunde bestätigt wird, die Gretchen Wohlwill ausnahmslos als harmonische Persönlichkeit beschreiben – eine Wesensart, die sich auch in ihrem eher heiteren Werk zu spiegeln scheint -, war in Wahrheit mühsam abgerungen, geboren aus dem Bedürfnis nach unbedingter Nähe und Zusammenhang. Denn fährt man in der Lektüre der Lebenserinnerungen fort, so heißt es da: „Einen Ausspruch, der mir wahrscheinlich nur durch Erzählungen in der Erinnerung haftet, soll ich einmal getan haben, als Mutter mit uns Kindern in Niendorf an der Ostsee war, begleitet von unserer guten Kinderfrau Margarete Ording: ‚Süße Mutter und süße Deta, und alle beide mein’. Ich würde das nicht festhalten, wenn ich nicht meinte, dass es charakteristisch auch für mein späteres Leben wäre: Was ich liebte, wollte ich auch besitzen“ 1). Und zum Tode der Mutter formulierte sie: „Am 9. Mai ging der einzige Mensch dahin, den ich ganz besessen hatte“ 1). Noch deutlicher wird diese Sehnsucht in einem undatierten Brief an Emmi Ruben (ihr Grabstein steht im Garten der Frauen) „Was Maetzel neulich sagte, war mir so aus der Seele gesprochen, dass nämlich, angenommen, die materielle Not sei eines Tages beseitigt oder gemildert, so bliebe doch immer die geistige Vereinsamung der Künstler u. ich möchte hinzufügen die seelische das Bedürfnis nach Verständnis u. Anteilnahme. Diejenigen deren Arbeiten scheinbar der Problematik entbehren, leiden unter solcher Vereinsamung ganz besonders. Solche Unproblematik ist ja auch nur scheinbar, der qualvolle Kampf um die Realisierung vollzieht sich mehr unter der Oberfläche als bei Anderen.“ Und in einem Brief an die Malerkollegin Alexandras Povorina heißt es: „...unendlich beglückend aber ist auch für mich das Erlebnis einer Seelenverwandtschaft. Alles wird mit in den einen Kreis hineinbezogen, da es aber eben ein irdischer ist, so sind wohl für mich viel mehr Schlacken, viel Qual und Unruhe dabei.“ (Brief vom 19. Juni 1927) 3). Dass Gretchen Wohlwill ihre keineswegs glückliche Grundstimmung und ihr oft schweres äußeres Leben in einer Weise meisterte, dass sie jedermann als bezauberndes, ausgeglichenes Wesen erschien, ist wohl darauf zurückzuführen, dass sie sich den für sie wegweisenden Wahlspruch ihres bewunderten und verehrten Vaters zu eigen gemacht hatte: „Ich kenne nur Pflicht, Güte und Nächstenliebe“ 1) Gretchen Wohlwill wurde als viertes Kind des Chemikers Emil Wohlwill und seiner Frau Luise geb. Nathan in Hamburg geboren. Der Vater, und durch seinen Einfluss auch die Mutter, wandten sich vom jüdischen Glauben ab und ließen auch in die Geburtsscheine ihrer Kinder „konfessionslos“ eintragen. Emil Wohlwill lehnte als Liberaler und Arbeiterfreund auch die so genannten Standesschulen ab, so dass Gretchen die Privatschule von Robert Meisner besuchte: „Es wurde nicht viel von uns verlangt, das Publikum war durchaus kleinbürgerlich und die Milieus keineswegs entsprechend meiner eigenen Häuslichkeit“ 1). Die eigene Häuslichkeit, das war eine sehr musikalische Mutter, die ihre Begabung an die Tochter Sophie, die Pianistin wurde, und an die Geige spielenden Söhne Heinrich und Friedrich weitergegeben hatte und die für das tägliche Leben und die Erziehung der Kinder zuständig war, und ein Vater, der für die Kinder „Festtag“ bedeutete. Die Besuche in seinem Labor zählte Gretchen zu den aufregendsten Erlebnissen ihrer Kindheit. Der Schatten, der über dieser Kindheit lag und der Gretchen noch über viele Jahre begleiten sollte, war die häufige Krankheit und Behinderung der ältesten Schwester Marie, die von den übrigen Familienmitgliedern permanente Rücksicht verlangte. Dem Unterricht in der Meisnerschen Schule folgte dann aber doch eine ihrer Herkunft und ihren Anlagen entsprechende Ausbildung. Nach einem Jahr Selecta, wobei Gretchen von allen Fächern die Kunstgeschichte am meisten interessierte, erfüllte sich 1894 ihr größter Wunsch: Sie wurde an der Kunstschule von Valeska Röver angemeldet und bekam eine Ausbildung bei Ernst Eitner und Arthur Illies. 1904/5 ging sie zur Fortsetzung ihrer Studien nach Paris und besuchte die Privatakademien Stettler und Dannenberg bei Lucien Simon und Jacques Emile Blanche. Wirklichen Gewinn aber zog sie erst aus einem zweiten Parisaufenthalt 1909/10, und das nicht nur, weil sie in der Matisse-Schule arbeiten konnte, sondern auch, weil ihr „endlich die Augen aufgegangen waren für die Großen der Gegenwart und die Kunst vergangener Zeiten“ 1). Das stimmt allerdings nicht ganz – hatte sie doch schon früh gegenüber Alfred Lichtwark, dem damaligen Direktor der Kunsthalle, den Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckten Vermeer als ihren Lieblingsmaler genannt, eine Vorliebe, die viel über ihre künstlerische Auffassungsgabe und ihr Wesen aussagt. Auch dass sie auf seine zweite Frage, was sie denn malen wolle, antwortete „Menschliche Figuren in ihrer Umgebung und Tätigkeit“, zeigt ihrer frühe künstlerische Reise. So zollte ihr Lichtwark denn auch Respekt und Beifall. Nach der Rückkehr von ihrem ersten Parisaufenthalt richtete Gretchen Wohlwill sich im elterlichen Haus in der Johnsallee 14 ein Atelier ein. Da sie, selbstkritisch wie sie ihre Leben lang blieb, überzeugt war, es nicht zu außerordentlichen Leistungen zu bringen und das Gelernte praktisch anwenden wollte, begann sie zu unterrichten und bereitete sich selbständig auf das Zeichenlehrerexamen vor, das sie 1909 in Berlin ablegte. In Hamburg hätte sie dafür ein dreijähriges Studium an der Gewerbeschule absolvieren müssen. Ihr Sinn fürs Praktische zeigt sich auch darin, dass sie 1897 ihre Malstudien ganz bewusst für ein halbes Jahr unterbrach, um eine Haushaltsschule zu besuchen. 1910 wurde Gretchen Wohlwill als Kunsterzieherin an der Emilie-Wüstenfeld-Schule eingestellt. Diese Tätigkeit schien ideal. Sie verschaffte ihr eine finanzielle Grundlage, die sie selbstbewusst und noch in den Zeiten der Weltwirtschaftskrise einigermaßen unabhängig machte, und da sie nur vier Tage in der Woche unterrichtet, blieb ihr Zeit für das eigene Schaffen. Doch im Unterricht machte ihr nur die Arbeit mit den Begabten wirklich Freude, und die Reduktion ihrer künstlerischen Existenz auf eine Dreitagewoche und die Reisen während der Schulferien führten dazu, da sie sich ständig gehetzt fühlte: „Wie ich mich auf die Ferien freue, das kann niemand ahnen, der nicht weiß, wie es ist, seine besten Kräfte für eine Sache, die ihm so gleichgültig ist, hergeben zu müssen  3), schreibt sie am 19. Februar 1926 an die Malerfreundin Alexandra Povorina. Kurz nach dem Tode des Vaters im Jahre 1912 wurde der Familie das Haus in der  Johnsallee gekündigt, weil es verkauft werden sollte. Man erwarb das Haus Magdalenenstraße 12, wo Gretchen Wohlwill sich wiederum ein Atelier einrichtete, das sie auch nach dem aus wirtschaftlichen Gründen notwendigen Umzug in den MIttelweg nach dem Tod der Mutter behielt. Es wurde zum Treffpunkt junger Künstler. 1928 zogen Gretchen und Sophie aus der riesigen kalten Wohnung am Mittelweg in die Flemingstraße 3. „Musik im Erdgeschoß, die Malerei im Dach“ 3), charakterisierte Hans Stock, Freund und Senatsdirektor der Kulturbehörde nach 1945, das einträchtige Zusammenleben der beiden Schwestern. 1933 wurde Gretchen Wohlwill wie die meisten Beamten und Beamtinnen jüdischer Abstammung aus dem Schuldienst entlassen. Doch obwohl sie auf einer Italienreise im Jahre 1930 im täglichen Umgang mit den Italienern schon „mancherlei vom Wesen und von den Schrecken des Faschismus“ erfahren hatte und sich fragte, „ob es überhaupt möglich ist, dass Kunst gedeiht, in einem Lande, in dem in solchem Maße die persönliche Freiheit beschränkt ist“ 1), und obwohl sie 1933 aus der Hamburgischen Künstlerschaft ausgeschlossen wurde und miterlebt hatte, dass die Hamburgische Sezession sich auflöste, um ihre jüdischen Mitglieder nicht ausschließen zu müssen, blieb sie wie viele andere seltsam sorglos. Sie war mit ihrer Kündigung „nicht unzufrieden“ 1), konnte sie doch endlich ihrer eigentlichen Arbeit frei nachgehen. Eine Emigration zog sie zunächst nicht in Erwägung. Stattdessen fasste sie den Plan, sich auf der Fischer- und Bauerninsel Finkenwerder ein Haus neben dem des Malers Bargheer zu bauen, den sie 1926 kennengelernt hatte und mit dem sie seitdem eng befreundet war: „Von ihm könnte und müsste ich Bände voll schreiben. Seit nunmehr 25 Jahren verbindet mich mit ihm eine seltene Freundschaft, die auf mein Leben größten Einfluss gehabt hat“ 1), beginnt Gretchen Wohlwill in ihren Lebenserinnerungen ihre Hommage an den um 23 Jahre jüngeren Eduard Bargheer. Eduard Bargheer lebte auf Finkenwerder, das – heute kaum noch vorstellbar – in den 20er Jahren mit seinem ländlichen Milieu, den Fischern und der Elbe viele Hamburger Künstler und Künstlerinnen anzog. Gretchen Wohlwill besuchte den Freund oft und baute sich bald einen Anbau an sein Atelier, um in den Ferien und am Wochenende hier zu leben und zu arbeiten: „Das Zusammensein mit Bargheer ist immer anregend, viele Klippen sind in unseren Beziehungen, aber jedes Mal, das eine überwunden ist, werden wir fester und sicherer. Er hat die Eigenart, irgendwie Selbstverständliches nicht auszusprechen; das macht es mir oft sehr schwer und ich leide sehr darunter. Wir haben sehr gearbeitet, aber auch manche schöne Segelfahrt gemacht und viel gebadet und geschwommen. Das Atelier ist fertig, und als Raum und Beleuchtung sehr schön geworden, nur ist es bei Sonnenschein sehr heiß, bei feuchtem Wetter eisig kalt. An dem Menschen Eduard Bargheer habe ich, je näher ich ihn kenne, keinen unlauteren Zug gefunden, er imponiert mir durch sein Zielbewusstsein, das ihn kleine Rücksichten nicht kennen lässt. Schwer ist im Verkehr mit ihm seine große Erregbarkeit. Er ist so gänzlich unbanal, darum ist mir Ihre ehemalige Auffassung so unbegreiflich. Glücklich in jeder Hinsicht macht er mich nicht, aber ich könnte mir mein Leben jetzt auch nicht mehr ohne ihn denken.“ (Brief an Alexandra Povorina vom 22. August 1928) 3). Gemeinsam unternahmen die beiden Reisen nach Holland und Belgien (1928), England (1929) sowie Italien und Paris (Dezember 1930 bis Ostern 1931, Gretchen Wohlwill war von der Schulbehörde ein Studienaufenthalt und ein Zuschuss von 400 M zu ihrem Gehalt gewährt worden). 1933 fuhren sie erneut nach Paris, und 1936 mit dem Motorrad nach Dänemark. Sie besuchten auf ihren Reisen Museen, in denen sie auch zeichneten und kopierten, und quartierten sich an Orten ein, wo sie tagsüber in der Natur arbeiteten und abends über das Gemalte diskutierten, sich korrigierten und – keineswegs unwichtig – aßen und tranken: „Ach, wie sehr wusste Gretchen die Qualität einer guten Küche und eines guten Kellers zu schätzen! Was für eine glänzende Köchin war sie, die immer wieder sagte: Glaubst du, daß jemand ein richtiges Rot findet, dem es gleich ist, was er als Speise in den Mund nimmt? Ich hingegen, so sagte sie, bin überzeugt, dass die Trauerklöße, die nicht essen und nicht trinken mögen, auch keine guten Maler sein können. Sie hatte ein sehr strenges Pflichtbewusstsein vor sich selbst und schon ein schlechtes Gewissen, wenn mal Tage ohne Arbeit vergingen. Sie war ganz unbestechlich in ihrem Urteil, sei es im Menschlichen oder im Künstlerischen. Wir besuchten zusammen viele Museen Westeuropas und ich werde nie ihre treffenden Urteile vergessen“  3), erinnert sich Eduard Bargheer an die gemeinsame Reise nach Holland. Bis zum Frühjahr 1939, als das von der Stadt gepachtete Gelände, auf dem sie ihr Haus gebaut hatte, gekündigt wurde, weil dort eine Flugzeugwerft entstehen sollte, verbrachte Gretchen Wohlwill die Sommer auf Finkenwerder, malte und segelte mit Bargheer auf dem gemeinsamen Boot: „Das Boot war für mich ein ganz neues Erlebnis, ein Quell des Glücks aber auch mancher Quälerei, denn, nachdem Eduard die Familie T. kennengelernt hatte, zog er es öfter vor, diese auf seinen Fahrten mitzunehmen“ 1). Der Freund Eduard Bargheer urteilte rückblickend: „Nach meinem Dafürhalten war ihre glücklichste Zeit die in Finkenwerder, als sie ihr kleines Haus gebaut hatte, in dem sie eine Reihe von Sommern ihrer Arbeit lebte. Daneben haben wir viel auf der Elbe gesegelt, was sie zur Arbeit anregte. Sie liebte das Milieu der Fischer, die sie alle schätzten und gern hatten“ 3). Auf Dauer konnte sie jedoch nicht an den Tatsachen vorbeisehen. 1937 wurden vier ihrer Arbeiten als entartet beschlagnahmt, 1938 ihre 1931 im Auftrag Fritz Schumachers für die Emilie-Wüstenfeld-Schule gemalten Wandbilder mit Bildern im Stil der nationalsozialistischen Propaganda übermalt 4). Die Verordnungen der Nazis gegen die Juden machten das Leben „schwer und schwerer“, bis es „fast unerträglich geworden war“  1). Sie begann mit der Schwester das Für und Wider der Auswanderung zu erörtern. Sophie konnte sich nicht entschließen. Sie wurde nach Theresienstand deportiert und starb dort, wie auch der Bruder Heinrich, ehemaliger Direktor der Norddeutschen Affinerie. Gretchen emigrierte, nachdem sie eine frühere Einreiseerlaubnis hatte verfallen lassen, quasi im letzten Moment im März 1940, im Alter von 61 Jahren nach Portugal. Auf Ischia und in Neapel verbrachte sie mit Bargheer „die letzten guten Tage ... danach begann wohl die schwerste Zeit meines Lebens, schwerer als die letzte Nazizeit in Hamburg“ 1). In Lissabon konnte sie bei der Familie ihres Bruders Fritz, Professor der Medizin, unterkommen, bis er in die USA weiterwanderte. Da sie so schnell wie möglich unabhängig werden wollte, versuchte sie, ihren Lebensunterhalt mit Stoffmalerei, Taschennähen und Sprach-, Literatur- und Malunterricht zu verdienen. Es war schweres Emigrantendasein in unheizbaren, primitiven Behausungen, voll Einsamkeit und Krankheit. Nach dem Krieg änderte sich das. Gretchen Wohlwill errang als Künstlerin nicht nur Anerkennung, sondern sogar Auszeichnungen: 1948 und 1952 erhielt sie den „Premio Francisco da Holanda“. Sie hatte eigene Ausstellungen und nahm an Gruppenausstellungen in Lissabon und Porto teil. Doch: „Die Sprache habe ich liebgewonnen, auch eine Reihe von Menschen. Das Land, Klima und die Stadt Lisboa sind mir immer fremd geblieben. Oft, plötzlich, habe ich mich an den Kopf gefasst: Wieso bist du hier, was willst du hier, das alles geht dich doch gar nichts an“ 1). Nach zwei Besuchen in Hamburg in den Jahren 1950 und 51 entschloss sie sich 1952 zur Rückkehr, wiederum sehr schwer und mit tiefem Zweifel: „Noch heute weiß ich nicht, ob es das Rechte war. ... Schwer genug ist mir die Entscheidung gefallen; dann plötzlich habe ich alles Nachdenken abgeschnitten und bin gefahren“ 1), schreibt sie ein halbes Jahr, nachdem sie wieder in Hamburg ist. Am Ende ihre Lebens bezeichnet sie diese Hamburger Jahre, in denen sie in den Grindelhochhäusern eine Wohnung hatte, jedoch als die schönsten ihres Lebens, weil die Politik sie nicht mehr direkt berührte. Gretchen Wohlwill starb 1962 im Alter von 83 Jahren. „Kaum je in meinem Leben sah ich eine solche Vitalität, die trotz schmerzlicher körperlicher Behinderung, die mit dem Alter ständig zunahm, überall erschien, wo auch immer etwas zu sehen, zu hören war oder Menschen zu treffen waren, die sie interessierten. Ausstellungseröffnungen, Konzerte, Theater und Ballett; Gretchen fehlte nirgendwo. Ganz zu schweigen von all den abendlichen Einladungen, die sie nie absagte, wenn es ihr nur einigermaßen gut ging. Sie war stets zu allem aufgelegt und hatte einen unbändigen Lebenshunger, der sogar mit dem Alter eher zu- als abnahm. Apropos Alter: sie wollte nichts davon wissen und hatte ein Recht dazu, denn im Grunde hat es das für sie nie gegeben. Wie viele müde, sogenannte ‚Junge Leute’ könnten sich beglückwünschen, wenn sie nur ein Fünkchen hätten von Gretchens Lebendigkeit, Schärfe und Urteilskraft, welche sich bis zuletzt bewahrt hat.“ (Eduard Bargheer in der Rede zur Gedächtnisausstellung) 3). Das Selbstgrüblerische ihrer Künstlerinnenkollegin Anita Rée war Gretchen Wohlwills Sache nicht, so dass von ihr auch nur ein einziges Selbstportrait – bezeichnenderweise aus der Zeit um 1933 – existiert. Ihre Sujets waren Landschaften, Stillleben, figürliche Kompositionen, Portraits: In Ausdrucksform und Farbgebung blieb sie ihren Lehrern Matisse und Cézanne verpflichtet. Sie war stets auf der Suche nach der von Cézanne formulierten Harmonie parallel zur Natur: „Obwohl ich es aufgegeben habe, ‚vor der Natur’ zu malen, so sind es doch immer Erlebnisse aus der Natur, die ich versuche, übersetzt, auszudrücken“  5). In der abstrakten Malerei, wie sie nach 1945 im Umkreis von Willi Baumeister in Hamburg als zukunftsweisend betrachtet wurde, sah sie keine Lösung. Wie Kritiken und Rezensionen zeigen, war Gretchen Wohlwill in den 20er und frühen 30er Jahren des 20. Jahrhunderts eine geschätzte Malerin und Graphikerin. Sie gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Hamburgischen Sezession und beteiligte sich an deren jährlichen Ausstellungen. Bis 1933 nahm sie an mindestens 15 Ausstellungen im In- und Ausland teil. Die Hamburger Kunsthalle und das Altonaer Museum kauften Bilder von ihr. Heute existiert ihr Werk nur noch in Fragmenten. Vieles, was sie bei ihrer Auswanderung Freunden zur Aufbewahrung gegeben hatte, fiel den Bomben zum Opfer. Der Teil ihrer Arbeiten aber, den sie für den wesentlichsten hielt, ging aus dem Versandlift verloren, der nach Kriegsende nach Portugal geschickt werden sollte. Arbeiten von Gretchen Wohlwill befinden sich in der Kunsthalle, im Altonaer Museum und im Museum für Hamburgische Geschichte. Der im Staatsarchiv aufbewahrte Nachlass ist 1989 an die Familie zurückgegangen. 1990 wurde eine Gedenkplatte an der Emilie-Wüstenfeld-Schule Bundesstraße 9 in Erinnerung an die jüdischen Lehrerinnen der damaligen Deutschen Oberschule für Mädchen, heute Emilie-Wüstenfeld-Schule angebracht. Text: Brita Reimers Zitate: [1] Gretchen Wohlwill: Lebenserinnerungen einer Hamburger Malerin. Bearbeitet von Hans-Dieter Loose. Hamburg 1984. [2] Mappe „Nachlass Ruben“. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Handschriftenabteilung. [3] Zitiert nach.: Maike Bruhns (Hrsg.): Gretchen Wohlwill eine jüdische Malerin der Hamburgischen Sezession. Hamburg 1989. [4] Die Wandbilder wurden 1993 freigelegt und restauriert. [5] Geschriebene Selbstportraits. In: Der Kreis. Zeitschrift für künstlerische Kultur. Hrsg. v. d. Hamburger Bühnen, Nr. 10. 1933.     Pflicht, Güte und Nächstenliebe war das Lebensmotto der Malerin Gretchen Wohlwill. Ihre Eltern, der Vater Chemiker, wandten sich vom jüdischen Glauben ab. In den Geburtsscheinen ihrer Kinder stand "konfessionslos". Nach ihrer Kunstausbildung machte sie das Zeichenlehrerinnenexamen, arbeitete ab 1910 als Kunsterzieherin an der Emilie-Wüstenfeld-Schule und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Hamburgischen Sezession. 1933 wurde sie aus dem Schuldienst entlassen und aus der Hamburgischen Künstlerschaft ausgeschlossen. 1937 wurden vier ihrer Arbeiten als entartet beschlagnahmt, 1938 ihre für die Emilie-Wüstenfeld-Schule gemalten Wandbilder übermalt. 1940 emigrierte sie nach Portugal, kehrte 1952 nach Hamburg zurück und errang als Künstlerin Anerkennung und Auszeichnungen.

    Henny Wolff

    Konzert- und Oratoriensängerin, Gesangspädagogin

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    3.2.1896
    Köln

    29.1.1965
    Hamburg
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    Eine Sechsjährige schreibt in ein Gästebuch „Henny Wolff, Sängerin“, und was nicht mehr als frommer Kinderwunsch scheint, entpuppt sich in der Folge als eine klar umrissene Vorstellung von einem zukünftigen Beruf. Sicherlich war dieser Wunsch beeinflusst, denn ihr Vater, Karl Wolff, war ein angesehener Musikkritiker, und die Mutter, Henriette Wolff-Dwillat, Konzertsängerin und Gesangspädagogin. Bei ihr hatte Henny Wolff, die schon als Kind schwerste Partien vom Blatt singen konnte, die ersten Gesangsstunden. Von 1906 bis 1912 erhielt sie Unterricht am Konservatorium in Köln, später bei Julius von Raatz-Brockmann. 1912 trat die 16jährige bei einem Kölner Gürzenich-Konzert erstmals öffentlich auf. Das war der Anfang einer glanzvollen Karriere im In- und Ausland. Als Bach und Händelinterpretin gelangte die Sopranistin zu Weltruhm. Häufig aber standen auch Lieder von Brahms und Werke der Moderne auf ihrem Programm. Gerne trug sie Lieder des Komponisten Hermann Reutter vor, der sie oft am Flügel begleitete. Sie trat zwar gelegentlich auch auf der Opernbühne auf, ihr eigentlicher Ort aber war der Konzertsaal. Neben ihrer Tätigkeit als Sängerin wirkte Henny Wolff zeitlebens als Gesangspädagogin. Von 1914 bis 1916 lehrte sie am Konservatorium in Bonn, 1922 ging sie nach Berlin. Nachdem sie dort im Zweiten Weltkrieg alles verloren hatte, zog sie nach Hamburg und leitete von 1950 bis 1964 die Klasse für Sologesang an der Musikhochschule. 1958 ehrte die Hansestadt Hamburg Henny Wolff, die sich bis ins hohe Alter eine schöne und lebendige Stimme bewahrt hatte, für ihre Verdienste mit der Brahms-Medaille. Henny Wolff starb kurz vor Vollendung ihres 69. Lebensjahrs, am 29. Januar 1965, nach schwerer Krankheit. In allen Nachrufen werden neben den künstlerischen ihre außergewöhnlichen menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten hervorgehoben. Darum soll zum Schluss Ludwig Pollner zitiert werden, der anlässlich ihres 65. Geburtstages im „Hamburger Echo“ vom 3. Februar 1961 eine Hommage an die „große Liedgestalterin“ richtete, die einen Eindruck von ihrem Wesen gibt: „Ich würde mich über mich selbst ärgern, wenn ich, ihr gegenüber sitzend, objektiv bleiben könnte. Wer Henny Wolff wirklich kennt und nicht bei jeder neuen Begegnung von neuem beglückt ist, der muss entweder versteinert oder vertrottelt sein. Allerdings: Ich weiß selbst nicht recht, wofür ich sie mehr liebe. Wenn sie mit ihrer großen herrlichen Stimme und aus dem Überfluss ihrer Gestaltungskraft ihren Göttern Schubert, Schumann und Brahms dient, reißt es mich vom Stuhl hoch. Aber wenn sie in ihrer großen klaren Schrift in einem (sehr unromantischen) ‚Billett doux’ einlädt: ‚Wann kommen sie zum Fraße?’, dann reißt es mich erst recht vom Stuhl hoch. (Wir beide essen furchtbar gern.) Nur wenn sie anfängt Witze zu erzählen, liege ich alsbald unter eben diesem Stuhl, denn einer ist besser als der andere. Und eigentlich genügt schon die Einleitung: Kennen Sie den …“ Henny Wolff hat ein großes Geheimnis: Es ist das, was in Wahrheit ihre Erscheinung ausmacht. Wer nicht versteinert und nicht vertrottelt ist, mag es gar bald erraten, denn sie trägt ihr (sehr junges) Herz auf der Zunge: Es ist die völlige Einheit ihrer Persönlichkeit, der eine verschwenderische Natur alles gab, ein ganzer Mensch zu sein und Künstler von Geblüt dazu: Die lebenslang lebendige Fähigkeit selbstkritischer künstlerischer Arbeit, schöpferischen, klugen Verstand, ein großes und offenes Herz für das Wahre, und Charme, Witz und Esprit in jener köstlichen Dosierung, die nur Frauen so traumhaft sicher zu handhaben verstehen. Es ist ein Teil der Faszination, die von Henny Wolff ausgeht, gleichviel ob sie auf dem Podium steht, als souveräne Hausherrin in ihrem eigenwillig gestalteten Heim oder vor ihren Schülern. Auch vor ihnen ist sie vor allem ein Mensch. (Dass sie so ein herrlich lästerndes Biest sein kann, gehört auch zu ihr.) Es ist nicht die gewichtige ‚Frau Professor’ unserer Musikhochschule, und es ist nicht die große Sängerin, und es ist nicht einmal die glänzende Pädagogin, die ihre vielen Schüler zwingt, alles zu geben, was in ihnen steckt, um Henny Wolffs eiserne Forderungen zu erfüllen. Es ist einfach der Mensch Henny, der das bewirkt. Man könnte sie um ihr Sein beneiden. Man braucht es nicht: Man darf und muß sie verehren und lieben. Heute, zu Hennys 65. Geburtstag werden sie reihum aufmarschieren.“ Text: Brita Reimers    

    Inge Wulff 

    Malerin

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    14.2.1933
    Hamburg

    26.5.1997
    Hamburg
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    Inge Wulff kam im Alter von 15 Jahren in die Alsterdorfer Anstalten. 1982 zog sie in das Stadthaus Schlump, eine Außenstelle der damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute: Evangelische Stiftung Alsterdorf). Dort besuchte sie in ihrer Freizeit ab 1984 das von dem Hamburger Künstler Rolf Laute (1940 – 2013) gegründete Kelleratelier der „Schlumper“. Schnell zeigte sich Wulffs künstlerisches Talent und ihre Begeisterung für Malerei und Zeichnung. Hauptberuflich war Inge Wulff jedoch bis 1993 in der Montage- und Verpackungsabteilung der Elbewerkstätten tätig, da ihre Betreuer eine hauptberufliche Tätigkeit als Künstlerin für sie nicht befürworteten.

    Die Ateliergemeinschaft „Die Schlumper“ entstand in den 1980er Jahren und fand 1983 einen festen Ort im Stadthaus Schlump in der Straße Beim Schlump in Hamburg. Künstler*innen mit unterschiedlichen Behinderungen trafen sich dort zum gemeinsamen Schaffen. Mit Hilfe des 1985 gegründeten Fördervereins ‚Freunde der Schlumper‘ und der Unterstützung der ‚Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Hamburg‘ gelang es 1993 das Arbeitsprojekt ‚Schlumper von Beruf‘ zu initiieren. So wurde die Möglichkeit für die Künstler*innen geschaffen, ihrer Tätigkeit hauptberuflich nachzugehen. Seit Anfang 2002 gehört das ehemalige Arbeitsprojekt mit sozialversicherten Künstlerarbeitsplätzen zur Ev. Stiftung Alsterdorfer, Bereich Alsterarbeit.“1) Inge Wulff wurde hauptberuflich Künstlerin und blieb dies bis zu ihrem Tod 1997. Ihre Bilder waren in zahlreichen Ausstellungen vertreten, u. a. auch in der Hamburger Kunsthalle 2005/2006.

    Die Kunsthistorikerin Maike Bruhns schreibt über Inge Wulffs Kunst: „Hochbegabt, Kompositionen aus großen Formen teils in reiner Farbfeldmalerei, teils mit gegenständl. Elementen versehen, Strichmänner, Kinderzeichnungen.“2)

    Günther Gercken äußerte über die Künstlerin Inge Wulff: „Sie besaß eine künstlerische Hochbegabung., Ihre Bilder komponierte sie aus großen Formen und bereicherte sie mit ihrer persönlichen Schrift oder figürlichen Einzelheiten. Sie hat Bilder geschaffen, die unsere Welt bereichern und weiter bestehen werden.“ Und im Ausstellungskatalog „Die Schlumper Kunst in Hamburg“ aus dem Jahr 2005 heißt es über Inge Wulffs Werke u. a. : „Ihre ausgewogenen Kompositionen fand sie unmittelbar im Malprozess. Die bildnerischen Entscheidungen, die uns wohlüberlegt erscheinen, wurden weitgehend vom Unbewussten gesteuert. Die großen Formen bereicherte sie mit kleinen Details und mit Schriftelementen. Sie vermied es, dass die Kombination der verschiedenen Bildelemente additiv wirkt; im Gegenteil verstand sie es, Kleinteiligkeit und Großformigkeit zu einer überzeugenden Gesamtkomposition zu vereinen. In dunklen Rahmenbildern füllte sie die weißen Flächen mit primitiven Figuren von Menschen und Tieren. Ihre Bilder, die zunächst abstrakt erscheinen, sind in Wirklichkeit gegenständlich. Wenn man sich in ihre eigenwillige Formensprache eingesehen hat, erkennt man, dass sie in ihren Bildern Gesehenes und Erlebtes schildert.“3)

    Gruppenausstellungen (Auswahl): 1989 Hamburg, Kampnagelfabrik, 1991 Freiburg an der Elbe, Kehdinger Kunstverein, 1993 Berlin, KulturBrauerei, 1994 Meldorf, Landesmuseum, 1995 Ahrensburg, Marstall, 1996 Bonn, Bundesgesundheitsministerium, 1999  Bonn, Landesvertretung Hamburg, 2001 Lütjensee, Tymmo Kirche, 2001 Prag, Rathaus, 2002 Chicago, Cultural Center, 2002/2003 Rostock, Kunsthalle, 2003  Göttingen, Kunstverein, 2005/2006 Hamburg, Kunsthalle, 2008 San Gimignano, Galleria D´Arte Moderna e Contemporanea, 2009  Lübeck, Kulturforum Burgkloster

    Quellen: 1) https://www.schlumper.de/atelier.html  und: Seite „Die Schlumper“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 29. Januar 2025, 17:05 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Die_Schlumper&oldid=252805108 (Abgerufen: 15. März 2025, 08:10 UTC)

    2) Der Neue Rump. Lexikon der bildenden Künstler Hamburgs. Überarbeitete Neuauflage des Lexikons von Ernst Rump (1912). Hrsg. von Familie Rump, ergänzt, überarb. Und auf den heutigen Wissensstand gebracht von Maike Bruhns. 2. Aufl. Neumünster 2013, S. 525.

    3) Die Schlumper. Kunst in Hamburg. Hrsg. von der Hamburger Kunsthalle anlässlich der Ausstellung „Die Schlumper Kunst in Hamburg“ vom 25. November 2005 bis 29. Januar 2006. Hamburg 2005, S. 30.