Marie Nejar
Künstlerinnenname: Leila Negra
Krankenschwester, Schauspielerin, Sängerin


Mühlheim a. d. Ruhr
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11.5.2025
Hamburg
Kielortallee 26 (Wohnadresse)
Marie Nejar war die nichteheliche Tochter der 1909 in Altona geborenen Sängerin Cécilie Nejar und des Kapitänsstewards aus Ghana Albert Yessow, der in England lebte und oft, wenn sein Schiff in Hamburg anlegte, seine Tochter in Hamburg besuchte.
Marie Nejar wurde in einem Krankenhaus in Mühlheim geboren und kam ins dortige Waisenhaus. Ihre Mutter, die lange versucht hatte, die Schwangerschaft zu verbergen, wollte ihre Tochter zur Adoption freigeben. Doch die verwitwete Großmutter Mary Nejar, geborene Wüstenfeld holte ihre Enkelin nach Hamburg, wo sie mit ihr auf St. Pauli lebte. Auch Marie Nejars Mutter wohnte auf St. Pauli und trat dort in verschiedenen Bars und Kneipen als Sängerin auf.
Marie Nejar wuchs nun bei ihrer Großmutter auf, die bis zu seinem gewaltsamen Tod (aus rassistischen Gründen erschossen) mit dem Kellner und Kreolen aus Martinique Joseph Nejar verheiratet gewesen war, mit dem sie zwei Kinder hatte: Marie Nejars Mutter Cécilie und Alphons.
Als Marie Nejar zehn Jahre alt war, starb ihre Mutter im Alter von 31 Jahren nach einer missglückten Abtreibung.
Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, war Marie Nejar Anfeindungen und Verfolgung ausgesetzt.
Als Propagandaminister Joseph Goebbels für UFA-Filme schwarze Kinder suchte, die als „Buschvolk“ auftreten sollten, bekam Marie Nejar 1942 durch Vermittlung einer Freundin ihrer Mutter in dem mit Hans Albers gedrehten Film „Münchhausen“ die Rolle einer schwarzen Dienerin und 1944 in dem mit Heinz Rühmann gedrehten Filme „Quax in Afrika“ eine kleine Rolle als Tochter eines Stammeshäuptlings. Dazu äußerte Marie Nejar viele Jahre später: „Mir war damals die Tatsache nicht klar, dass die Schwarzen in den Filmen der Nazizeit missbraucht wurden, um die Ideologie der Nationalsozialisten zu untermauern. Für mich zählte damals nur der Glanz der Filmwelt, von dem ich ein Teil zu werden glaubte.“
Nach dem Abschluss der Volksschule im Frühjahr 1944 wollte Marie Nejar die Handelsschule besuchen. Doch sie wurde davon ausgeschlossen und musste in einer Keks- und Zwiebackfabrik am Berliner Tor Zwangsarbeit leisten.
Nach Kriegsende und der Befreiung vom Nationalsozialismus arbeitete Marie Nejar 1948 als „Page“ im Pagen-Anzug an der Garderobe der am Neuen Wall gelegenen „Er und Sie-Bar“. Nach dem Tod ihrer Großmutter, die 1949 starb, war Marie Nejar zusätzlich noch als Zigarettenverkäuferin in der Timmendorfer Strandhalle tätig.
An einem Nachmittag des Jahres 1948/50, so Marie Nejar: „sortierte ich meine Zigaretten für den Abend. Irgendwoher hörte ich aus einem Radio Horst Winter das ‚Negerwiegenlied‘ singen und ich summte mit. Da wurde ich von einem Musiker aufgefordert, mal ins Mikrofon zu sprechen, irgendwas sei damit nicht in Ordnung. Weiterhin summend und dann leise singend stellte ich mich auf die Bühne und sang das Negerwiegenlied. Irgendwann wurde ich von Hans, einem der Musiker unterbrochen: ‚Lass gut sein, wir hören dich nicht, das Mikro ist offensichtlich kaputt‘. Also ging ich wieder zu meinen Zigaretten zurück. Am Abend gingen immer mehr Besucher auf den Strandhallenbesitzer zu, um zu erfahren, wer denn da gesungen habe. ‚Am Nachmittag ist dieses Negerwiegenlied über den ganzen Strand zu hören gewesen, im Vordergrund sang die Frau und ganz leise im Hintergrund Horst Winter.‘ Plötzlich sprang Hans auf, klopfte auf das angeblich defekte Mikro und stellte fest, dass es nach draußen eingestellt war.“ Von nun an durfte Marie Nejar abends als Sängerin auftreten.
Als der Schallplattenproduzent Gerhard Mendelson im Sommer 1950 Marie Nejar in der Strandhalle singen hörte, bot er ihr einen Schallplattenvertrag an. In Wien wurde mit ihr das Lied „Mach nicht so traurige Augen, weil du ein Negerlein bist“ für die Schallplattenproduktion aufgenommen. Auch bekam sie nun einen Künstlerinnennamen verpasst: Leila Negra. Dieser Name sowie weitere Liedtexte wie „12 kleine Negerlein“ verdeutlichen den alltäglichen Rassismus im damaligen Deutschland. Je länger ich den Titel ‚Mach nicht so traurige Augen‘, im Repertoire hatte, umso bewusster wurde mir, wie wichtig dieses Lied für das Nachkriegsdeutschland war. Nach meinen Auftritten kamen immer wieder junge weiße Mütter mit schwarzen Kindern hinter die Bühne, um mir zu erzählen, wie ihre Töchter oder Söhne angefeindet wurden.“
Zwischen 1952 und 1957 ging Marie Nejar auf viele Tourneen unter dem Motto „Musik kennt keine Grenzen“. Unter den Künstlerinnen und Künstlern, die mit dabei waren, waren u. a. Conny Froboess, Lale Andersen, Ilse Werner, Evelyn Künnecke und auch Peter Alexander, den Marie Nejar als besten Kollegen bezeichnete, denn er half ihr über alle Anfangsschwierigkeiten hinweg. Mit ihm hatte sie auch einen großen Schlagererfolg mit dem 1952 produzierten Schlager „Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere“, den beide im Duett sangen.
Über ihre weitere Karriere erzählte Marie Nejar: „Obwohl ich inzwischen [1956-1957] auf Ende Zwanzig zuging, bekam ich keine neuen Songs geschrieben und durfte auch nicht die Schlager von ‚erwachsenen‘ Kollegen interpretieren. Auf einmal standen sämtliche Lieder der kleinen Cornelia Froboess wie ‚Pack die Badehose ein‘ oder ‚Für die große Liebe bin ich noch zu klein‘ auf meinem Programm. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ich mochte Conni sehr gerne, wir waren häufig zusammen auf den Tourneen und hatten viel Spaß miteinander. Aber diese nette Kinderwelt in den Schlagern hatte überhaupt nichts mit meinem Leben als Frau zu tun, die sich über ihre Zukunft Gedanken machte. Auch wenn ich noch immer wie ein Teenager aussah, meine Wünsche waren die einer Frau. Ich sollte weiterhin die naive Leila Negra spielen, die einst von meinem Schallplattenproduzenten kreiert worden war. Nur so würde ich Erfolg haben und sie an mir Geld verdienen. Das Singen machte mir immer weniger Freude.“ Hinzu kam noch, dass Marie Nejar oft mit einem großen Teddy im Arm auftreten musste, um als Kind und nicht als Erwachsene gesehen zu werden.
Marie Nejar wirkte in fünf Filmen mit und hatte ca. 30 Schlageraufnahmen. 1957 endete ihre Karriere als Sängerin. Ihre Schallplattenfirma entließ sie, was Marie Nejar als Segen empfand. Diesen Circus der Eitelkeiten und die ihr zugewiesene Rolle der süßen Kleinen Schwarzen, die nie erwachsen werden darf, wollte sie nicht mehr mitmachen und bedienen. Marie Nejar ließ sich zur Krankenschwester ausbilden und arbeitete in diesem Beruf bis zu ihrem Rentenalter. 2007 erschienen ihre Lebenserinnerungen.
2009 wurde Marie Nejar Mitglied des Vereins Garten der Frauen und engagierte sich in der „Gartengruppe“, die den Garten der Frauen gärtnerisch pflegt. 2010 organisierte der Verein Garten der Frauen eine Lesung mit ihr im Eppendorfer Park, im dort aufgestellten Circuszelt.
Marie Nejar pflegte auch engen Kontakt zur afrodeutschen Community Hamburgs. Sie war sehr sportlich, fuhr hervorragend Schlittschuh – oft auf der Eisbahn in den Hamburger Wallanlagen und liebte Tiere.
Quelle:
Marie Nejar, Regina Carstensen: Mach nicht so traurige Augen, weil du ein Negerlein bist. Meine Jugend im Dritten Reich. Reinbek b. Hamburg 2007.